Frederick Wiseman

50 Stunden Drehen für 1 Stunde Film

Frederick Wiseman; Foto: Wikipedia
Dokumentar-Filmer Frederick Wiseman beobachtet in seinem 38. Film "La Danse: Das Ballett der Pariser Oper" den Tanz-Alltag einer der berühmtesten Compagnien der Welt. Ein Gespräch über Dreh ohne Vorbereitung an Orten, die Tennis-Plätzen gleichen.

Wie haben die Tänzer den Film aufgenommen?

 

Ich habe sie zu einer Vorab-Vorführung eingeladen, bevor der Film in die Kinos kam. Nicht alle sind gekommen, aber viele – und diejenigen, die da waren, mochten den Film.

 

Hatten Sie vor Beginn der Dreharbeiten eine Vorstellung, welche Struktur der fertige Film haben sollte?

 

Nein. Ich denke über das Thema und die Struktur erst nach, wenn ich im Schneideraum bin. Vor den Dreharbeiten hatte ich nur bestimmte Orte und Ereignisse im Kopf, die ich filmen wollte: Proben, Aufführungen, Planungs-Treffen usw. Was genau dort passiert, war mir unbekannt. Außerdem ändert sich das dauernd.

 

Ich wollte das nur beobachten und dann entscheiden, ob es für den Film interessant genug ist. Für solche Filme muss man sehr viel drehen, damit man im Schneideraum genug Material zur Auswahl hat: Bei «La Danse» liegt das Verhältnis von Rohmaterial zu Sequenzen im fertigen Film bei 50 zu eins.

 

Mehr Tiefe durch einen Schauplatz

 

Warum porträtieren Sie mit Vorliebe Institutionen – was fasziniert sie daran?

 

Institutionen geben mir Zugang zu vielen Leuten. Und sie bieten eine Begrenzung – wie das Netz und die Seitenlinien eines Tennisplatzes. Diese Begrenzung entscheidet über den Inhalt des Films: Was innerhalb geschieht, passt in den Film, was sich außerhalb befindet, gehört in den Film nicht hinein. Mich interessiert, was Leute vorgeben zu tun, und was sie tatsächlich machen. Institutionen haben Regeln. Die Leiter solcher Institutionen versuchen, die Regeln anzuwenden – manchmal erfolgreich, manchmal weniger.

 

Außerdem wähle ich immer einen Schauplatz. Als ich einen Film über Sozialhilfe machte, habe ich in einem einzelnen Sozialamt gedreht. Ich hätte auch Sozialhilfe-Empfänger zuhause besuchen können. Indem ich mich auf einen einzigen Schauplatz konzentriere, verringere ich das Risiko, dass der Film oberflächlich werden könnte, und gewinne mehr Tiefe und Komplexität.

 

Würde ich vier Tanz-Compagnien porträtieren, müsste ich bei jeder erklären, wo sie sich befindet, wie das Gebäude aussieht, wer die leitenden Figuren sind – Einführung und Exposition würden einen zu großen Anteil am Film ausmachen.

 

Alles filmen, was man will

 

Die Pariser Oper ist weltberühmt und hat einen Ruf zu verlieren. Was war ihr Interesse, Sie nach Belieben filmen zu lassen?

 

Da müssen Sie die Oper selbst fragen. Brigitte Lefèvre ist einfach sehr aufgeschlossen gegenüber Neuem. Das sieht man an ihrer Auswahl für den Spielplan. Ich denke, sie hat sich informiert und erfahren, dass meine Arbeitsweise fair ist – und dann das Projekt riskiert.

 

Hatten Sie völlige künstlerische Freiheit?

 

Ja. Man hat mir nichts verweigert oder untersagt. Wir hatten folgende Vereinbarung: Wenn ich etwas aufnahm, was vertraulich bleiben sollte, musste man mir das nur sagen. Aber das ist nicht passiert – ich durfte alles filmen, was ich wollte.