Berlin

Kompass – Zeichnungen aus dem Museum of Modern Art New York

André Thomkins: Untitled, 1965, Lackskin (enamel) on paper, 196.2 x 280.7 cm. Foto: © 2011 André Thomkins / Artists Rights Society (ARS), New York
Wie man einen Kassenschlager inszeniert: Der Martin-Gropius-Bau in Berlin bauscht seine neue Grafik-Ausstellung zum Mega-Ereignis auf. Dennoch lohnt der Besuch: nicht wegen, sondern trotz des MoMA-Etiketts.

Papier ist geduldig

 

Nach Abzug all dieser Vorbehalte bleibt immer noch eine beeindruckende Grafik-Schau übrig. Denn sie sprengt den selbst gesetzten Rahmen: Zu sehen sind nicht «Zeichnungen», sondern Arbeiten auf Papier. Das beinhaltet im Zeitalter von cross-media creation und Terrabytes alles Mögliche, was man mit Papier anstellen kann.

 

Angefangen von traditionellen Gouachen und Aquarellen über diverse Spielarten von Collagen, Cut-up- und Kopiertechniken bis hin zu wüsten Assemblagen aller denk- und undenkbaren Materialien; vorausgesetzt, es existiert noch eine Art Bildträger. Selbst die archaische Zeichnung, bei der ein Mensch mit Stift Linien aufs Papier setzt, kommt vor.

 

Kopfgeburten + Explosionen visueller Fantasie

 

So borniert sich die Sammlung in geografischer Hinsicht verhält, so aufgeschlossen gibt sie sich in Bezug auf Techniken und Stile. Sogar Hybride, bei der eine Kreation auf Papier eingescannt, am PC weiterbearbeitet, ausgedruckt, abermals manipuliert und erneut in Dateien verwandelt wird – bei der also die Frage nach dem Original völlig obsolet wird, weil jede Version nur eine Zwischenstufe in der endlosen Kette künstlerischer Eingriffe darstellt – auch solche work-in-progress-Konstrukte sind ihr willkommen.

 

Das führt zu einer fabelhaften Vielfalt, die in einer Themen-Ausstellung undenkbar wäre. An jeder Ecke warten auf den Besucher neue Entdeckungen. Sie müssen nicht immer angenehm sein: Auf die Wiederbegegnung mit vergilbter Mail Art oder minimalistischen Strich-Rastern auf Millimeterpapier aus den 1970er Jahren hätte man gern verzichtet. Doch für jede dröge Kopfgeburt entschädigen Eruptionen visueller Fantasie, wie sie sonst selten zu sehen sind.

 

Große Wundertüte für jeden Geschmack

 

Etwa eine imaginäre Weltkarte des Schweden Öyvind Fahlström, auf der er in Comic-Manier jeden Landstrich mit Fakten und Figuren kennzeichnet. Oder eine Wandtapete von Marcel Odenbach, deren Wald-Motiv aus Textspalten für die Baumstämme und Gesichtern für das Laub collagiert ist. Oder überraschend zarte, eindringliche Selbstporträts von Thomas Schütte. Selbst Tom of Finland, der mit expliziten Lederkerle-Pornos berühmt wurde, ist mit einem formvollendeten Kopf vertreten.

 

Diese Zusammenstellung ist eine große Wundertüte, die jedem Geschmack etwas bietet. Sie verkündet: So unglaublich abwechslungsreich ist der Schöpfungsakt am Zeichentisch – so erstaunliche Wirkungen lassen sich mit geringen Mitteln erzielen. Wenn sie es doch nicht so marktschreierisch täte! Gleichviel: Diese Ausstellung lohnt einen Besuch – nicht wegen, sondern trotz des MoMA-Etiketts.