Kassel

Enrique Metinides: Schauspiel des Tatsächlichen

Foto: Museum für Sepulkralkultur
Choreographie des Todes: Der mexikanische Fotograf lichtet virtuos Unfälle, Verbrechen und Katastrophen ab. Seine schrecklich schönen Bilder zeigt das Museum für Sepulkralkultur erstmals in Deutschland.

Der Tod als Welt-Theater, als sorgfältig arrangierte Inszenierung –  das ist das Lebensthema von Enrique Metinides. 1934 geboren, knipste er mit zwölf Jahren sein erstes Foto einer Leiche. Drei Jahrzehnte lang versorgte er die mexikanische Boulevardpresse mit Aufnahmen spektakulärer Todesfälle. Sie waren stets schön schrecklich und schrecklich schön.

 

Info

Enrique Metinides: Schauspiel des Tatsächlichen

 

02.06.2011 - 04.09.2011

täglich außer montags 10 - 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr im Museum für Sepulkralkultur, Weinbergstraße 25 - 27, Kassel

 

Weitere Informationen

Dass Europa heutzutage das Sterben versteckt und verdrängt, ist eine Binse. Lateinamerika geht damit anders um – insbesondere Mexiko mit seinem «Fest der Toten». Ob das am Erbe morbider Kulte der Azteken liegt oder am barocken Katholizismus der Spanier mit seiner Memento-mori-Drastik: Der Tod wird als Spektakel in bunten Farben ausgemalt. Zur Einstimmung: Armut, Kriminalität und technische Defekte machen es wahrscheinlich, jäh aus dem Leben gerissen zu werden.

 

Der deutsche Pressekodex verpflichtet Medien, keine expliziten Bilder von Unfall- oder Attentatsopfern zu veröffentlichen. In Lateinamerika werden sie auf die Titelseiten gehievt. Auf der Jagd nach den stärksten Effekten war Metinides sehr treffsicher: Er verband den schonungslosen Fokus auf einen Unfall- oder Tatort mit ausgefeilten Kompositionen – ohne reguläre Ausbildung.

 

Impressionen der Ausstellung

 


 

Lange galten seine Fotos als banale Schnappschüsse fürs Nachrichtengeschäft. Erst seit zehn Jahren entdeckt man ihre herausragende Qualität. 70 davon sind nun im Museum für Sepulkralkultur in Kassel zu sehen – Metinides’ erste Ausstellung in Deutschland.

 

Altmeisterliche Kompositionen

 

Die meisten Aufnahmen zeigen Verkehrsunfälle. Als Panoramen einer Bühne, auf der Schaulustige die Rolle des Chors übernehmen. Während die Kamera frontal das Desaster fixiert, ist ihre Perspektive sorgsam gewählt. Fluchtlinien, Unter- oder Draufsicht, Symmetrien und Hell-/Dunkel-Kontraste veredeln blutende Verletzte, entstellte Leichen und zerquetschtes Blech zu Figuren und Staffage wie auf einem altmeisterlichen Gemälde.

 

Auch die Transportmittel wirken malerisch. Flugzeuge bohren sich senkrecht in den Boden oder brechen mittig entzwei, Busse hängen wie Senkblei über Abgründen, Autos werden in Einzelteile zerlegt. Dabei treibt Metinides dieses Schauspiel niemals zynisch ins Groteske. Im Gegenteil: Seine Aufmerksamkeit gilt dem Leid der Opfer und Angehörigen.

 

Weder beschönigt noch vulgarisiert

 

Am meisten berühren Aufnahmen, auf denen die Katastrophe selbst abwesend ist. Sie zeigen nur ihre Folgen: Gesichter, die vor Schrecken und Schmerz verzerrt oder vom Schock wie erstarrt sind. Menschen, die irgendwie helfen wollen – andere tragen, pflegen, trösten. In solchen Momenten scheint eine urhumane Solidarität auf, die das Grauen erträglicher werden lässt.

 

Metinides Verdienst ist es, das wichtigste Ereignis des Daseins in den Gesichtskreis zu holen; indem er es weder beschönigt noch vulgarisiert. Ebenso wie das Museum für Sepulkralkultur, das Tod und Gedenken in unserer Kultur beleuchtet. Beides ist eine Meisterleistung – und lebenswichtiger als manche blutleere Konzept-Künstelei. Ganz abgesehen vom ästhetischen Schauwert dieser Bilder.