Berlin

Der geteilte Himmel: Die Sammlung 1945–1968

Franz Radziwill: Flandern (Detail), 1940/50, Öl auf Leinwand und Sperrholz; Foto: ohe
Als die Welt aus komplementären Hälften bestand: Die Neue Nationalgalerie zeigt die Kunstströmungen der Nachkriegszeit als feindliche Geschwister. Ein großer Wurf, der das Einerlei der Gegenwart erklärt.

Neben Klassikern der Moderne in Ost und West wie Fritz Cremer und Willi Baumeister werden lange vernachlässigte Maler vorgeführt: im Zentrum «Wahnsinnige Harlekine vor den Trümmern des Krieges» von Heinrich Ehmsen. Er war in Westberlin erster Vizedirektor der Hochschule für Bildende Künste unter Karl Hofer, wurde wegen angeblicher KP-Sympathien entlassen und Mitbegründer der Akademie der Künste in Ostberlin: Ein Grenzgänger zwischen den Systemen.

 

Opposition ist Augenwischerei

 

Oder Franz Radziwill und Richard Oelze – der erste nationalsozialistisch belastet, der zweite nicht, aber beide Vertreter des Magischen bzw. Sur-Realismus. Ihre handwerkliche Virtuosität widersprach der westlichen Abstraktions-Dogmatik. Beide waren kommerziell erfolgreich, wurden aber vom offiziellen Kunstbetrieb geschnitten. Nun zeigt die Nationalgalerie die alte Opposition von Abstrakt versus Gegenständlich als Augenwischerei; die Übergänge bei Radziwill, Oelze und vielen anderen waren fließend.

 

Dennoch kommt die Ausstellung um eine bipolare Aufteilung nicht herum. Nach dem Auftakt gabelt sich die Kunstwelt: Links geht es zur Abstraktion, rechts zur Figuration. Beide Hauptströmungen werden in allen Verästelungen nachgezeichnet. Wobei es viel zu entdecken gibt: etwa die ekstatischen Farb-Orgien der COBRA-Gruppe. Oder die informelle Schwarze Internationale, die vom Italiener Emilio Vedova über den Franzosen Pierre Soulages bis zum Japaner Takashi Suzuki reichte.

 

Verwandtschaft des scheinbar Gegensätzlichen

 

Oder zahlreiche Versuche, die Zweidimensionalität der Leinwand zu überwinden, um einen welthaltigen Raum zu gewinnen: Einschnitte von Lucio Fontana, biomorphe Krater-Reliefs von Lee Bontecou, farblose Serialität der ZERO-Gruppe von Heinz Mack, Günter Uecker und Otto Piene. Dessen kompletter «Lichtraum» ist zu sehen: eine famose, psychedelische Wunderkammer aus Leucht-Reflexen – wie ein feuchter Traum von Moholy-Nagy.

 

Kurator Joachim Jäger lässt historische Gerechtigkeit walten. Er stellt alle Tendenzen exemplarisch vor, denn aus heutiger Sicht sind alle gleich unmittelbar zu Gott: Tachismus und Art Brut, Farbfeld-Malerei und Op Art, Minimalismus und Nouveau Realisme, Fluxus und Body Art, Agitprop und Pop Art. Wobei die Schau unmerklich von einer Station zur nächsten gleitet, als gingen alle Positionen organisch auseinander hervor. Ist das Kampfgeschrei verklungen, wird die Verwandtschaft des scheinbar Gegensätzlichen deutlich.

 

Weltstars als Fixpunkte

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Insights" mit dreidimensionalen Wandbildern von Lee Bontecue im ZKM, Karlsruhe

 

und hier eine kultiversum-Rezension der Ausstellung "Moderne Zeiten": Neupräsentation der Sammlung von Werken bis 1945 in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

 

und hier die Besprechung einer Ausstellung der Werke von Karl Hofer im Kunstverein Talstraße, Halle/Saale

 

und hier einen Artikel über die Pierre Soulages gewidmete Retrospektive im Martin-Gropius-Bau, Berlin

Wenn es in diesem dialektischen Kontinuum Fixpunkte gibt, dann in Gestalt der anerkannten Weltstars: Picasso und Giacometti, Francis Bacon und Henry Moore, Robert Rauschenberg und Andy Warhol, Joseph Beuys und Sigmar Polke sind mit maßgeblichen Werken präsent. Doch interessanter wirken die Einzelgänger.

 

Im Westen die filigranen Mobiles von Hans Uhlmann, eine aparte Löffel-Assemblage des Franzosen Arman oder das ungeschlachte Skulptur-Ungetüm des Schweizers Bernhard Luginbühl; im Osten die Max-Beckmann-Paraphrase «Abtransport der sechsarmigen Göttin» von Harald Metzkes oder die altmeisterlich-kleinteilige Vergangenheits-Bewältigungs-Malerei von Werner Tübke.

 

Ahnengalerie der Video- und Street Art

 

Im Rückblick auf diese gedrängte Fülle fällt auf: Es war schon immer alles da. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist keine postmoderne Erfindung, sondern gelebte Realität der gesamten Nachkriegszeit. Bloß standen manche Künstler im Rampenlicht der Feuilleton-Aufmerksamkeit, während andere ein Schattendasein in kleinen Zirkeln fristeten.

 

Sie als ebenbürtig an die Seite der geläufigen Heroen zu stellen, ist das Verdienst dieser Ausstellung. Ein großer Wurf, damit die Nation der Video– und Street Artists ein Bild ihrer Ahnengalerie im 20. Jahrhundert gewinnen möge. Danach kann eigentlich nur noch eines kommen: anything goes.