Jean-Pierre + Luc Dardenne

Illusionen verlieren wie im Märchen

Interview mit den Brüdern Dardenne: Jean-Pierre Dardenne spricht. Foto: ohe
In «Der Junge mit dem Fahrrad» nimmt sich eine Friseurin eines Jungen an, der von seinem Vater im Stich gelassen wird. Ein Gespräch über Filmemachen unter Brüdern, Kinder als Hauptdarsteller und einfache Fragen ans Leben.

Gute Fee und Schurke

 

Im Vergleich zu Ihren früheren Filmen herrscht in «Der Junge mit dem Fahrrad» eine eher optimistische Atmosphäre mit fast märchenhaften Zügen. War das Ihre Absicht?

 

Jean-Pierre: Wir haben diesen Film tatsächlich ein wenig wie ein Märchen angelegt – mit der Figur von Samantha als guter Fee. Der Kleindealer Wes gibt den Schurken. Die Hauptfigur muss bestimmte Prüfungen bestehen und verliert dabei ihre Illusionen – wie in jedem Märchen. Für Cyril ist es die Illusion, dass sein Vater ihn liebt.

 

Unerwartete Orte und Situationen

 

Samantha verliert ihren festen Freund , weil sie sich um Cyril kümmert – doch das scheint sie kaum zu stören, jedenfalls wird es nicht gezeigt. Das überrascht. War für Sie dieser Aspekt unwichtig?

 

Luc: Beim Filmemachen ist die wichtigste Frage: Was will man zeigen – und was verbergen? Was ist dafür wichtig und was nicht? Wenn Samantha mit ihrer Liebe zu Cyril ihn quasi rettet, ist in diesem Zusammenhang belanglos, was sie bei der Trennung von ihrem Freund empfindet. Samantha ist nicht die Hauptfigur des Films; daher geht er auf ihren Kummer über die Trennung nicht ein. Außerdem entspricht das ihrer Rolle als ‚gute Fee’: In einem Märchen müssen die Dinge einfach sein.

 

Der Regisseur eines Films – das gilt ebenso für die Kunst oder Literatur – führt den Zuschauer an Orte und in Situationen, die er nicht erwartet hat; das schätze ich daran. In unserem Film gibt es vier potentielle Vater-Figuren. Eine davon ist Samanthas Freund – aber er ist eifersüchtig auf Cyril, weil der zwischen ihm selbst und Samantha steht. Diese Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit; Cyril ist völlig auf seinen Vater fixiert.

 

Nicht die komplexe Realität abbilden

 

Der Film zeigt Samantha als absolut gutmütigen Charakter – als sei sie eine Allegorie der Güte, während Cyrils Vater wie eine Allegorie der Treulosigkeit auftritt. Ist dieser Ansatz nicht arg schlicht?

 

Luc: Unser Film verfolgt nicht den Anspruch, die Komplexität der Realität abzubilden. Stattdessen nötigt er den Zuschauer, sich zu fragen, ob er sich in einer vergleichbaren Situation – gleichgültig, wie komplex sie ist – ebenso wie Samantha verhalten würde. Die Einfachheit der Fabel soll zum Nachdenken anregen: Trotz aller Komplexität sind manche Dinge sehr simpel.

 

Im Verlauf des Films verliert Cyril die Illusion der väterlichen Liebe. Kalkuliert er dabei nicht durchaus eigennützig, nach dem Motto: Da mein Vater mich nicht liebt, wende ich mich derjenigen Person zu, die das tut?

 

Luc: Cyril fühlt sich so alleine gelassen, dass er sich notgedrungen an Samantha klammert. Andererseits hat er sie mit einer Schere gestochen und verletzt, also etwas Furchtbares getan – und sie hat die Polizei eingeschaltet. Um zu ihr zurückkehren zu können, muss er sich dafür entschuldigen und zuvor sein Verhalten völlig ändern.

 

Menschlich sein durch Verantwortung

 

Schuld und Vergebung sind zwei Motive, die in Ihren Filmen stets eine herausragende Rolle spielen – wie im Neuen Testament. Ist Ihre Arbeit religiös  inspiriert?

 

Luc: In allen Religionen spielt sicher Schuld eine zentrale Rolle, aber unsere Figuren sind nicht religiös. Sobald man mit einer Schere auf jemandem einsticht, trachtet man einem anderen nach dem Leben – ob man einer Religion angehört oder nicht. Solches Verhalten wird von jeder Moral geächtet; auch in Ländern ohne Monotheismus wie Indien oder China. Das Recht ist universell – beziehungsweise: glücklicherweise wird es das allmählich. Wenn man für seine Taten nicht die Verantwortung übernimmt, hört man auf, menschlich zu sein.