Hélène Lee

The First Rasta

Rastafaris in den Ruinen der ersten Rasta-Kommune Pinnacle. Foto: Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 26.4.) Der unbekannte Stifter einer Weltreligion: Leonard Percival Howell gründete die Rastafari-Bewegung. Die Doku seiner Biographin Hélène Lee entreißt ihn dem Vergessen – leider ohne kritische Reflexion.

Alle Weltreligionen haben als Sekten angefangen. Doch sie finden, wenn ihre Botschaft die Sehnsüchte vieler Zeitgenossen anspricht, weltweit ihr Gefolge. Insofern war Leonard Percival Howell der Stifter einer wahren Weltreligion.

 

Info

The First Rasta

 

Regie: Hélène Lee, Frankreich 2010, 89 min.;
mit: Max Romeo, William "Blade" Howell, Bro Powdy

 

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Mit einem Lebenslauf, angesichts dessen Buddha, Jesus und Mohammed wie Stubenhocker aussehen. 1898 wird Howell in einem Dorf im Süden Jamaikas als Sohn selbstständiger Bauern geboren. Da er in einem Mord-Prozess nicht gegen Verwandte aussagen will, wandert er 1915 nach Panama aus.

 

Als Schiffskoch nach Russland

 

Dort heuert der 17-Jährige auf einem Frachter an; als Schiffskoch reist er um die halbe Welt und begeistert sich für Lenins revolutionäre Ideen. Doch seine Stippvisite im vom Bürgerkrieg erschütterten Russland ernüchtert ihn; auf einem Transport-Schiff der alliierten Interventions-Truppen gelangt er in die USA.


Offizieller Film-Trailer, englisch untertitelt


 

Äthiopiens Kaiser als Messias

 

In New York wird er Anhänger von Marcus Garvey; der Bürgerrechtler befürwortet die Rückkehr aller Schwarzen nach Afrika. Die Große Depression ab 1929 lässt Howell an der modernen Zivilisation zweifeln. Im Folgejahr findet er ein neues Vorbild: In Äthiopien wird Regent Ras Tafari zum Kaiser Haile Selassie I. gekrönt. Howell betrachtet ihn als Reinkarnation Christi und schwarzen Messias.

 

1932 wird er nach Jamaika abgeschoben und lässt sich auf dem Land als Heiler für Plantagen-Arbeiter nieder. Howell ist nicht der einzige Selassie-Verehrer, aber der wirkungsmächtigste: Da er die Autorität der britischen Kolonialmacht bestreitet, wird er 1934 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt – der Prozess macht ihn berühmt.

 

Shiva trägt Dreadlocks

 

Nach seiner Entlassung aus der Haft knüpft er Kontakte zur Indern in Jamaika und integriert hinduistische Elemente in seine Lehre: so den rituellen Genuss von Marijuana («Ganja») – auch sollen die Rasta-Dreadlocks auf die Haarpracht des Gottes Shiva verweisen. Weil Howell streikende Arbeiter unterstützt, lässt ihn Jamaikas Premier Bustamante in die Psychiatrie einweisen.

 

1940 gründet Howell die Land-Kommune Pinnacle; bald leben dort rund 3000 Gefolgsleute,  denen er seine antikoloniale und –monarchistische Autarkie-Heilslehre predigt. Da die Gemeinschaft mit Ganja handelt, verhaftet die Polizei 1954 mehr als 100 Mitglieder.

 

Tod drei Monate vor Bob Marley

 

Vier Jahre später wird Pinnacle zerstört und aufgelöst; die Rastafaris zerstreuen sich über ganz Jamaika. Howell taucht unter und lebt jahrelang asketisch in Verstecken. Er stirbt im Februar 1981; drei Monate vor Bob Marley, dessen Reggae die Rasta-Religion weltweit bekannt macht.

 

Diese sagenhafte Biographie des wichtigsten Rasta-Propheten hat die Französin Hélène Lee minutiös rekonstruiert: 1999 in einem Buch, nun auch als Film. Worin die Hauptfigur fast unsichtbar bleibt: Wenige alte Fotos und ein grobkörniger Mitschnitt seiner Beerdigung sind die einzigen Bilder, die von Howell existieren.

 

Hemmungslos subjektive oral history

 

Stattdessen nutzt Lee historische Aufnahmen und erklärt im Off Howells turbulenten Werdegang. Das gerät arg schulbuchmäßig, bis ehemalige Weggefährten vom früheren Leben in der Pinnacle-Kommune erzählen – darunter sein Sohn William «Blade» Howell, ein heller Kopf und aufmerksamer Beobachter.

 

Die ausgedehnten Interviews bieten alle Vor- und Nachteile von oral history. Sie sind so anschaulich wie hemmungslos subjektiv – zumal viele der betagten Herrschaften offenbar weiter eifrig Ganja rauchen. So kommt der eklektische Aufbau der Rasta-Religion leider kaum zur Sprache.

 

Außenwelt als böses Babylon

 

Hintergrund

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Lobeshymne auf die Doku “The Black Power Mixtape 1967 – 1975” über die schwarze Bürgerrechts-Bewegung der 1960/70er Jahre in den USA.

Zu ihrer Bedeutung für die moderne Geschichte Jamaikas und die Emanzipation der Schwarzen befragt die Filmemacherin auch Historiker, doch kommen sie nur kurz zu Wort. Denn Lee teilt die schlichte Weltsicht von Rastafaris, die pauschal die Außenwelt als böses «Babylon» verdammen; kritische Reflexion und Analyse sind nicht ihr Fall.

 

Womit sie großen Zulauf finden, obwohl Reggae mittlerweile zu monotonem Dancehall-Raggamuffin verflacht ist: Eine florierende Rasta-Szene dürfte das Einzige sein, was alle schwarzafrikanischen Staaten gemeinsam haben. Zwar wird sie kaum zur Massenbewegung werden: Dafür sind Rastafaris zu selbstgenügsam und individualistisch. Aber als lebensbejahende Spiritualität für underdogs taugt ihre Religion allemal.