Van Groeningen + Heldenbergh

Tattoos als Tagebuch eines Lebens

Johan Heldenbergh (li.) und Regisseur Felix van Groeningen. Foto: ohe
«The Broken Circle» erzählt vom Auf und Ab der Liebe eines Bluegrass-Musikers zu einer Tätowiererin. Regisseur van Groeningen und Hauptdarsteller Heldenbergh über ehrliche Musik als größtes Geschenk des Lebens und ein sich aufdrängendes Ende.

Größtes Geschenk meines Lebens

 

Mr. Heldenbergh, konnten Sie bereits zuvor Bluegrass spielen, oder haben Sie es für Ihr Stück gelernt?

 

Heldenbergh: Zwei Jahre vorher habe ich angefangen, Banjo zu lernen; anschließend noch Gitarre und Mandoline damit ich in einer Band spielen konnte. Heute, sechs Jahre später, haben wir eine gut eingespielte Bluegrass-Band, mit der wir auf Tournee gehen. In Belgien tritt sie auch auf Festivals auf und spielt ihr Repertoire aus dem Film.

 

Das ist das größte Geschenk, das ich mir in meinem Leben selbst gemacht habe. Abgesehen natürlich von meinen Kindern, aber dabei hat mir meine Freundin geholfen. Doch Musik zu spielen habe ich alleine gelernt.

 

Alle Liebhaber-Namen eintätowiert

 

Die andere Hauptfigur Elise ist professionelle Tätowiererin. Warum – war das Ihrer Schauspielerin Veerle Baetens persönlich wichtig, oder gab Ihr Stück das vor?

 

Van Groeningen: Das Tätowieren kommt schon im Theaterstück vor, wenn auch nur kurz. Elise enthüllt in einem kurzen Monolog, dass sie sich Didiers Namen auf die Haut tätowiert hat – wie alle Namen ihrer früheren Liebhaber.

 

Als wir das Drehbuch schrieben, erschienen uns Tattoos als interessantes Sujet; wir haben es ausgebaut, um es zu einer Art Leitmotiv zu machen. So wurde Elise zu einer professionellen Tätowiererin. Für den Film ließen wir von einem Designer eigens Tattoos entwerfen, die zu ihrem Körper passen.

 

Tattoos als Symbole für Vielgötterei

 

Heldenbergh: Das ist einer wichtigsten Unterschiede zwischen Stück und Film. Im Stück gibt es nur ihren kurzen Monolog, in dem Elise von ihren Tattoos spricht. Für den Film machte sie Felix zu einer Tätowiererin, deren Körper vollständig mit Tattoos bedeckt ist – wie ein Tagebuch ihres Lebens. Das zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Elise neigt zu Symbolen für Dinge, die für sie wichtiger sind als die Realität.

 

Van Groeningen: Für Elise sind Symbole entscheidend, die einfach da sind, ohne dass sie ihre Bedeutung erklärt: warum sie an Gott glaubt, oder an verschiedene Götter, oder an ein Leben nach dem Tod. All das wird mit Tattoos assoziiert.

 

Mit Kind zur Vorbereitung Klinken besucht

 

Die Tochter von beiden wird von einer wundervollen Kinderschauspielerin verkörpert. Wie schwierig war es, ihr die Bedeutung des Todes und einer Krankheit wie Krebs zu vermitteln?

 

Van Groeningen: Gar nicht, obwohl wir das am Anfang fürchteten. Aber wir waren sehr offen zu den Eltern, und das zahlte sich aus: Sie haben uns sehr geholfen, mit dem Kind zu arbeiten. Etwa, indem sie mit ihm und unserem Kindermädchen Krankenhäuser besucht und mit Ärzten gesprochen.

 

Heldenbergh: Veerle, ich und das Kind haben uns lange bemüht, uns wie eine echte Familie zu fühlen. Es verstand, dass wir nicht seine richtigen Eltern sind, aber hat einfach mitgespielt. Wir haben uns auch Spiele ausgedacht, zum Beispiel: Bei «Zehn» bist Du sehr lebendig, und wenn wir rückwärts zählen, wirst Du immer schwächer, bis Du bei «Eins» stirbst.

 

Van Groeningen: Das Mädchen ist sehr intelligent; für es war alles ein großes Spiel. So half es uns, selbst die schwierigsten Szenen zu drehen.

 

Dänemarks Kino einholen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Broken Circle" von Felix van Groeningen

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Geschmack von Rost und Knochen" von Jacques Audiard - Melodram über die Liebe eines Ex-Boxers zu einer Rollstuhlfahrerin

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Junge mit dem Fahrrad" von Jean-Pierre + Luc Dardenne - präzise Milieu-Studie über einen elternlosen belgischen Jungen

 

und hier ein Bericht über den Film "Bullhead" von Michaël R. Roskam - spannender Krimi über die Hormon-Mafia in Belgien.

Belgisches Kino ist in Deutschland kaum präsent, abgesehen von den Werken der Brüder Dardenne und seltenen Ausnahmen wie «Bullhead» von Mikaël Roskam. Diese Filme sind von schonungslosem Sozialrealismus geprägt, wie auch «The Broken Circle». Ist das typisch für die belgische Filmszene?

 

Van Groeningen: Ich finde sie sehr divers. Der nüchterne Sozialrealismus im Cinema verité-Stil der Dardenne-Brüder übt keinen großen Einfluss aus, obwohl sie exzellente Filme machen. In Belgien entstehen sehr unterschiedliche Filme, im Kommerz- wie im Autorenkino – und viele Filme sind zwischen diesen Polen angesiedelt, wie «Bullhead» oder meine.

 

Heldenbergh: Es gibt zwei Film-Szenen in Belgien – die von Flandern und die in Wallonien. Wallonische Filme sind entweder sehr realistisch wie die der Dardenne-Brüder, oder sehr poetisch und fantasievoll-märchenhaft. In den 1960/70er Jahren waren Theaterstücke und Filme sehr naturalistisch; wir haben eine Neigung dazu.

 

Flämisches Kino verbindet oft beides: einen naturalistischen und einen poetischen Ansatz. Außerdem ist die staatliche Filmförderung sehr gut. Das wallonische Kino holt allmählich auf, weil es am Erfolg des flämischen partizipieren will. Da bewegt sich heutzutage viel mehr als noch vor zehn Jahren. Es wird dauern, bis wir so weit sind wie Dänemark, aber wir sind auf dem richtigen Weg.