Charlotte Roche

Feuchtgebiete

Helen (Carla Juri) und ihre Eroberung haben Spaß. Foto: copyright: Peter Hartwig / Majestic
(Kinostart: 22.8.) Griff unter die Gürtellinie: Charlotte Roche hat diverse Körperöffnungen und -flüssigkeiten literaturfähig gemacht. Regisseur David Wnendt bringt sie nun ins Kino - genauso respektlos, tempo- und geistreich wie der Bestseller.

Das geht sofort voll zur Sache: eine leinwandfüllende Hautspalte, oben zart auslaufend, zwischen zwei sanft gerundeten, rosig schimmernden Wölbungen. Ein Schlüsselreiz, auf den jeder Mann (und manche Frau) anspringt. Dann fährt die Kamera ganz langsam zurück − und zu sehen ist ein angewinkeltes Mädchen-Knie. Erotik liegt im Wunschdenken des Betrachters.

 

Info

 

Feuchtgebiete

 

Regie: David Wnendt

109 Min., Deutschland 2013

mit: Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker, Axel Milberg

 

Website zum Film

 

Mit diesem Anfangsbild stellt Regisseur David Wnendt klar, dass er „Feuchtgebiete“ richtig versteht. Die Unterscheidung von Körperzonen und -funktionen in un- und anständige, schlüpfrige und jugendfreie ist kulturell bedingt und ziemlich willkürlich. Nur in zwei Situationen wird sie aufgehoben: beim Sex und beim Arzt. Beide vermengt der Bestseller von Charlotte Roche virtuos.

 

Genussvoll das letzte Tabu brechen

 

Ihr Roman von 2008 ist ein Meilenstein der deutschen Gegenwartsliteratur, weil einzigartig: In unserer dauerverquasselten Medienlandschaft findet er noch ein echtes Tabu − und bricht es genussvoll. Wenn andere ausgiebig über Nazi-Gräuel, Metzel-Szenen und Vampir-Quatsch schreiben, warum nicht über etwas so Natürliches wie Körperöffnungen und -flüssigkeiten? Zumindest, wenn es so geistreich und vergnüglich ausfällt wie in „Feuchtgebiete“.

Offizieller Filmtrailer


 

Besser als 250 Jahre Pornographie

 

Roche hat Stoffe wie Muschisaft, Menstruationsblut und Analfissuren literaturfähig gemacht − also nicht als billige Provokationen herauskrakeelt, sondern Phänomene erörtert, die jeden beschäftigen. Allein ihre präzise und liebevoll ausgemalten Masturbations-Szenen sind besser − weil lebensnäher − als alles, was Pornographie in den 250 Jahren seit dem Marquis de Sade hervorgebracht hat.

 

Regisseur Wnendt macht diese Substanzen jetzt kinofähig. Vor allem in der ersten Stunde: Da hat die Verfilmung so viel Timing, Wort- und Bildwitz, stimmige Atmosphäre und haarsträubende Einfälle wie der Roman.

 

Überdrehter stream of consciousness

 

Hauptfigur Helen Memel (Carla Juri) schlägt einen Haken nach dem anderen, kommt im Off-Kommentar vom Hölzchen aufs Stöckchen, und Wnendt bebildert alles so drastisch wie nötig und so diskret wie möglich. Sein Film hält brillant mit dem atemberaubenden Tempo im stream of consciousness eines überdrehten Teenagers mit, ohne auszufransen − tolle Leistung!

 

Für alle, die das Buch nicht kennen, kurz der Plot: Die 18-jährige Helen hat Hämorrhoiden, sich bei der Intimrasur am Anus verletzt und liegt nun im Krankenhaus. Die Operation glückt, aber sie will die Klinik nicht verlassen, um ihre geschiedenen Eltern am Krankenbett wieder zusammen zu bringen. Und Krankenpfleger Robin (Christoph Letkowski) rumkriegen, in den sie sich verguckt hat.

 

Scheidungs-Seelennöte sind kein Neuland

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Fuck for Forest" - Doku über Öko-Sex-Aktivisten von Michał Marczak

 

und hier das Interview "Sex gehört zu Kino und Büchern dazu" mit Frédéric Beigbeder über die Verfilmung seines Romans "Das verflixte 3. Jahr"

 

und hier einen Beitrag über den Film "Kriegerin" von David Wnendt über rechtsradikale Jugend in Ostdeutschland.

 

Denn das ist das eigentliche Thema von „Feuchtgebiete“: Mit Körperreaktionen und Zipperlein klarzukommen, ist viel leichter als mit emotionalen Narben. Auch die schildert Charlotte Roche authentisch, aber konventionell.

 

Seelennöte von Scheidungskindern, so ergreifend sie sein mögen, sind kein literarisches Neuland. Ebenso wenig in der Verfilmung, die auch in der zweiten Hälfte der Vorlage getreulich folgt. Nun geht es romantischer und besinnlicher zu, was nach dem aufgekratzten Beginn etwas abfällt.

 

Pippi Langstrumpf des 21. Jahrhunderts

 

Dennoch ist der Film ein Ereignis, allein schon wegen Carla Juri in der Hauptrolle. Rebellisch und rotzfrech, ständig auf Krawall gebürstet und dabei sensible Beobachterin, fegt sie wie ein Wirbelsturm über die Leinwand: Widerstände und -worte pustet sie einfach weg.

 

Eine Pippi Langstrumpf des 21. Jahrhunderts, die jede Konvention elegant auf ihrem Skateboard umkurvt und bei aller Kratzbürstigkeit grundsympathisch bleibt: Soll sie doch bitteschön alles kriegen, was sie will. Wenn sie dabei bloß nicht so neurotisch, egozentrisch und blutleer wird wie ihre Eltern.