Mike Lerner + M. Posdorowkin

Pussy Riot − A Punk Prayer

Mike Lerner (li.) + Maxim Posdorowkin, Regisseure von "Pussy Riot - A Punk Prayer". Foto: ohe
Für ihren Auftritt in Moskaus Kathedrale sitzen drei Mitglieder von "Pussy Riot" zwei Jahre Haft ab. Ein Interview mit Mike Lerner und Maxim Posdorowkin über Ziele der Gruppe, die Doku-Dreharbeiten und die wirkungsvollste Performance der Welt.

Allein vor Kreml + Gericht

 

Viele russische Oppositionelle werden juristisch verfolgt; was ist das Eigentümliche am Prozess gegen Pussy Riot?

 

Posdorowkin: Die drei Frauen verfechten ihre Sache ganz allein, ohne Rückhalt von irgendwelchen Organisationen. Obwohl viele Akteure − sowohl konservative als auch liberale − versucht haben, sie für ihre eigenen Zwecke einzuspannen.

 

Putin ist nach rechts gerückt, wodurch er die Unterstützung vieler Liberaler verloren hat: etwa mit von der Kirche geforderten Maßnahmen gegen Blasphemie. Zusätzlich gibt es auch konservative Bewegungen von unten; etwa die orthodoxen Demonstranten, die man im Film sieht.

 

Reflexions-Prozess für die Gesellschaft

 

Pussy Riot vertreten eine radikalfeministische Position. Erreichen sie damit nur die üblichen Verdächtigen in der liberalen Intelligenzija der Großstädte, oder finden sie mehr Resonanz?

 

Posdorowkin: Was bedeutet es, jemanden zu erreichen? Wenn man Leute anderer Auffassung dazu zwingt, über ihnen fremde Themen zu debattieren, etwa über Feminismus und die Beziehung zwischen Kirche und Staat, dann ist das ein Fortschritt, weil die Menschen damit konfrontiert werden. Natürlich stimmen sie nicht sofort zu. Doch dieser Reflexions-Prozess bringt eine Gesellschaft voran − auch wenn die Gegner bei ihrer Haltung bleiben.

 

Moskaus Chauvi-Opposition

 

Was ihren Feminismus angeht: Sie haben den Namen Pussy Riot gewählt, weil der Begriff riot, also „Unruhen“, in Russland rein männlich besetzt ist. Auch die politische Opposition in Moskau ist sehr chauvinistisch.

 

Die Sowjetunion ließ zwar als erstes europäisches Land Frauen wählen und legalisierte Abtreibung. Doch der Feminismus der 1970/80er Jahre blieb dort aus. Russland ist weiterhin eine patriarchalische Gesellschaft, obwohl Frauen im Arbeitsleben gleichberechtigt sind.


Mitschnitt des 40-Sekunden-Auftritts von Pussy Riot in der Erlöser-Kathedrale


 

Alternativ-Ikonographie für Polit-Aktivismus

 

Russland hat eine lange Tradition revolutionärer Gruppen, die desto radikaler werden, je weniger Rückhalt sie genießen; angefangen mit den Anarchisten und Narodniki („Volksfreunden“) der 1880er Jahre. Steht Pussy Riot in dieser Tradition?

 

Posdorowkin: Ja, sie begreifen sich als revolutionäre Radikale und Speerspitze der Gesellschaft. Viele Gruppen in Russlands Geschichte haben versucht, den Westen an kulturellem Radikalismus zu übertrumpfen − etwa die abstrakte Avantgarde in der Kunst.

 

Die meisten Mitglieder von Pussy Riot sind hoch gebildet und beteiligen sich seit zehn Jahren an Kunst-Aktionen. Sie wollen mithilfe neuer sozialer Medien eine alternative Ikonographie für politischen Aktivismus kreieren − mit Auftritten, denen die Macht ratlos gegenüber steht.

 

Pussy Riot for President!

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Bericht über das Festival "Doku.Arts 2013" für Dokumentarfilme über Kunst im Zeughauskino, Berlin

 

und hier eine Rezension der Doku "Der Fall Chodorkowski" über Aufstieg und Fall des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski von Cyril Tuschi

 

und dazu hier das Interview "Kein Ausstieg aus dem Teufelskreis" mit Regisseur Cyril Tuschi

 

und hier die Doku "Fuck for Forest" von Michał Marczak über eine Öko-Sex-Aktivistengruppe.

 

Lerner: Als Teil ihres feministischen Programms haben sie sich das Wort Pussy angeeignet, in die Presse-Schlagzeilen und Abendnachrichten gebracht − eine erstaunliche Leistung.

 

Außerdem lenken sie das Augenmerk der Welt auf die Zustände in der russischen Gesellschaft; vor allem darauf, dass sie nicht monolithisch ist, sondern in ihr verschiedene Kräfte wirken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Mitglied von Pussy Riot eines Tages Präsidentin Russlands wird.

 

Superstars zum Wohle aller

 

Was werden die Pussy-Riot-Mitglieder machen, wenn sie im März 2014 wie vorgesehen aus der Haft entlassen werden?

 

Posdorowkin: Nadja will weiter Philosophie studieren und als Künstlerin arbeiten. Mascha wird in sozialen Projekten weitermachen, in denen sie schon vorher gearbeitet hat. Außerdem haben sie noch weitere Ideen, aber darüber können wir nicht reden: Warten wir es ab.

 

Lerner: Sie werden sich bestimmt nicht zur Ruhe setzen. Natürlich war die Haft ein großer Einschnitt in ihr Leben und hat ihren Status verändert: Für einen Teil der Gesellschaft sind sie nun Superstars. Sie werden versuchen, das zum Wohle aller zu nutzen; so sind sie nun einmal.

 

„Pussy Riot − A Punk Prayer“ wird im Rahmen des Doku.Arts-Festivals am 29.9. im Berliner Zeughauskino gezeigt. Der Film ist außerdem ab Dienstag, 22.10., drei Monate lang als „Video on Demand“ beim Online-Dienst watchever.de abrufbar.