Kiel

Old School – Anachronismus in der zeitgenössischen Kunst

Eva + Franco Mattes: Everything you can think, 2008. Foto: Kunsthalle zu Kiel
Früher war alles besser: Die Kunsthalle will die Frage klären, warum veraltete Verfahren und Motive derzeit in der Kunst so beliebt sind – und verheddert sich hoffnungslos in einem Wirrwarr aus widersprüchlichen Ansätzen und Werken.

Alte Schule hat im Deutschen einen guten Klang. Ein „Gentleman alter Schule“ zeigt formvollendete Manieren, ein „Melodram alter Schule“ weckt geschmackvoll ganz große Gefühle. „Alte Schule“ steht für solide Gediegenheit und prinzipienfeste Haltung: ein wenig altmodisch, aber von verlässlicher Qualität – und keineswegs altbacken.

 

Info

 

Old School - Anachronismus in der zeitgenössischen Kunst

 

27.09.2013 - 26.01.2014

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

mittwochs 10 bis 20 Uhr

in der Kunsthalle zu Kiel, Düsternbrooker Weg 1, Kiel

 

Katalog 8 €

 

Weitere Informationen

 

Old School ist ein sprachlicher Neuzugang: So nannten sich hip hop-Musiker der 1980er Jahre, als Ende des Jahrzehnts die new school aufkam, ein neuer Stil mit härteren beats und sattem Klangbild. Der Begriff ist sehr populär, wird aber abwertender verwendet als sein deutsches Pendant: Wer etwas old school nennt, hält es für recht altmodisch oder veraltet.

 

Vinyl-Schallplatten + selbst kochen

 

Anders die Kunsthalle zu Kiel: Sie versteht darunter alles, was irgendwie rückwärtsgewandt, nostalgisch oder retrospektiv ist. Das ist ziemlich viel: die Benutzung technisch überholter Apparate wie Polaroid- und Super-Acht-Kameras, Vinyl-Schallplatten, Freude am Landleben, Selbermachen und -kochen, second hand-Kleidung und auf alt getrimmte Möbel – selbst TV-Serien, die in vergangenen Dekaden spielen.

Interview mit Kunsthallen-Direktorin Anette Hüsch + Impressionen der Ausstellung


 

Ausgestorbene Pflanzen + Tiere

 

Dieses erweiterte old school-Verständnis will die Ausstellung umfassend vorführen: mit nur 38 Werken von zwölf mehr oder weniger bekannten Künstlern, die „handwerklich, motivisch oder technisch auf historische Bildformen zurückgreifen“. Eingrenzend spricht sie vom „Anachronismus in der zeitgenössischen Kunst“, also von Unzeitgemäßem: Phänomenen, die obsolet sind – oder noch gar nicht vorhanden. Auch letzteres nennt man „anachronistisch“.

 

Anita Albus arbeitet absichtlich anachronistisch – wofür sie 2001 das Bundesverdienstkreuz bekam. Albus malt altmeisterlich anmutende Miniaturen von Pflanzen und Tieren, die bereits ausgestorben oder davon bedroht sind. Dazu rührt sie sogar selbst ihre Farben nach alten Rezepten an: living in the past.

 

Nur Bilder aus der Zeit vor der Geburt

 

Wie der Niederländer Marcel van Eeden, der nur Bildvorlagen vor seinem Geburtsjahr 1965 mühselig mit Kohle abzeichnet. Daraus entstehen vielteilige Serien wie „The Photographer 1945-1947“: vermeintliche Szenenbilder eines Nachkriegs-film noir. Unklar ist, wozu das storyboard eines fiktiven Krimis gut sein soll – aber vergangenheitsselig wirkt es allemal.

 

Bei anderen Teilnehmern scheint das zweifelhafter. Elger Esser vergrößert alte Farbpostkarten in Riesenformate: Ihre Falschfarben sind genauso passé wie die Motive, doch ausgedruckt werden sie mit Computertechnik. Martin Assig erstellt seine dekorativen bis banalen Bilder mit Enkaustik. Dieses Verfahren, Farbe mit heißem Wachs aufzutragen, gab es zwar schon in der Antike – doch Töpfern ist noch viel älter: Soll fortan jeder Keramiker als old school gelten?

 

Old school am Kottbusser Tor

 

Offenbar betrachten die Kuratorinnen jede Handarbeit als anachronistisch: Olaf Holzapfel steuert Skulpturen aus Heu-Schnüren bei, die von Bauern per Hand geflochten werden – was man den geometrischen Gebilden nicht ansieht.

 

Larissa Fassler hat ohne technische Hilfsmittel ein Modell und Karten des „Neuen Kreuzberger Zentrums“ am Berliner Kottbusser Tor angefertigt: Ist nun ihr Vorgehen anachronistisch, oder eher dieses Monument des Beton-Brutalismus? Und wenn 1970er-Jahre-Wohnungsbau old school sein soll: Wann fängt die Gegenwart an?

 

Google für Digital-Analphabeten

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "BubeDameKönigAss" mit Bildern der zeitgenössischen Maler Martin Eder, Michael Kunze, Anselm Reyle + Thomas Scheibitz in der Neuen Nationalgalerie, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "ART and PRESS – Kunst. Wahrheit. Wirklichkeit." über das drohende Verschwinden der Print-Presse in Berlin + Karlsruhe

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Michael Triegel - Verwandlung der Götter" über den altmeisterlich malenden Künstler im Museum der bildenden Künste, Leipzig.

 

Dieselbe Frage stellt sich bei Ulrike Kuschel. Sie trägt in Jahreskalender von 1961 bis 1989 die Todesdaten aller Maueropfer ein: im Geschichts-Unterricht der Mittelstufe sicher eine lehrreiche Übung, aber als kreativer Akt so originell wie diese vergilbten Zeitungs-Beilagen.

 

Souverän ignoriert wird das Thema der Schau von Franco und Eva Mattes, die ein ego shooter game manipulieren, sowie Taryn Simon und Aaron Swartz, die einen Online-Bilderatlas laufen lassen: Google für Digital-Analphabeten. Warum auch nicht? Der cyber space wandelt sich so rasend schnell, dass alles schon veraltet ist, bevor es installiert wird.

 

Überambitionierter Schlamassel

 

Da kann man auch unter einem x-beliebigen Schlagwort alles Mögliche auffahren: Hier purzelt vieles durcheinander, und nichts passt zusammen. Hätte sich die Schau auf weniger Aspekte beschränkt, wäre ihre Diagnose vermutlich überzeugender: Viele Menschen sind von der jetzigen Turbo-Modernisierung überfordert.

 

Sie sehnen sich nach vergangenen Verhältnissen zurück, die ihnen lebenswerter erscheinen – Künstler machen da keine Ausnahme. Doch als überambitioniertes Sammelsurium trägt die Ausstellung zu genau dem Schlamassel bei, gegen den sich jede old school-Mentalität wehrt: von allem ein bisschen, nichts richtig, nur oberflächlich angetippt, weder verständlich noch verdaubar, und damit information overkill.