Berlin

Ai Weiwei – Evidence

Hocker, Hölzerne Hocker, 2014, © Ai Weiwei. Fotoquelle: Martin-Gropius-Bau
Sammelwut als Regimekritik: Die bislang größte Ausstellung des chinesischen Künstler-Dissidenten im Martin-Gropius-Bau überwältigt mit schierer Fülle. Politische Bezüge der Werke werden bestens erklärt, autonome Ästhetik geht darin eher unter.

Diese Schau ist wie ein Staatsakt. Noch vor der Eröffnung erklärt sie Kulturstaatsministerin Monika Grütters, oberste Dienstherrin des Martin-Gropius-Baus, flugs zum „Kulturereignis des Jahres“: als leuchtendes Beispiel, wie aktiv Deutschland für die Freiheit der Kunst eintrete.

 

Info

 

Ai Weiwei – Evidence

 

03.04.2014 - 13.07.2014

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai

täglich 10 bis 20 Uhr

im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Berlin

 

Katalog 30 €

 

Weitere Informationen

 

Tatsächlich ist Ai Weiwei weltweit nirgends so präsent wie hierzulande. 2007 hatte er auf der documenta 12 seinen internationalen Durchbruch: Er türmte alte Holztüren und Fenster zu einem Mahnmal gegen Kulturzerstörung auf und lud 1001 Chinesen zu einem Kurztrip nach Kassel ein – eine geniale PR-Aktion.

 

Berliner Professor + Akademiemitglied

 

2009 folgte im Münchener Haus der Kunst „So Sorry“, seine erste große Werkschau im Westen. Als Ai 2011 wegen angeblicher Steuerhinterziehung 81 Tage lang in Peking inhaftiert war, wählte ihn die Berliner Akademie der Künste zum Mitglied; die Universität der Künste berief ihn zum Professor. Sein Künstlerfreund Olafur Eliasson richtete ihm ein Hauptstadt-Atelier ein.


Interview mit Kurator Gereon Sievernich + Impressionen der Ausstellung


 

Öffentlichkeit schützt gegen Verfolgung

 

Viel Aufmerksamkeit für einen Abwesenden: Ai Weiwei darf seit der Haft China nicht verlassen. Auch die Ausstellung im Gropius-Bau hat er aus der Ferne bestückt und koordiniert – via Internet. Denn multimedial ist er so gegenwärtig wie kein anderer zeitgenössischer Künstler.

 

Digitaltechnik nutzt Ai exzessiv; erst mit seinem Blog, bis die Behörden den abschalteten, seither via Twitter. Fast jeden seiner Schritte fotografiert oder filmt er und stellt die Bilder ins Netz: Öffentlichkeit soll ihn gegen Verfolgung schützen.

 

Regimekritik + Nabelschau

 

Sein Konterfei ziert auch etliche Gazetten: Im Vorfeld der Schau ließ ihn das ZEIT-Magazin ein ganzes Heft gestalten. Zeitungen und Journale schickten ihre Edelfedern nach Peking, wo er in seinem geräumigen Studio ausführliche Interviews gab; sie verquicken schneidende Kritik am chinesischen Willkür-Regime mit narzisstischer Nabelschau.

 

Nach all dem Wirbel um Ai Weiwei als Polit-Aktivisten bietet seine bislang größte Einzelausstellung auf 3000 Quadratmetern in 18 Räumen endlich Gelegenheit, den ästhetischen Rang seiner aktuellen Produktion zu begutachten. Dass seine Konzept-Kunst eminent engagiert ist und schreiende Missstände in China anprangert, versteht sich: doch mit welchem künstlerischen Mehrwert?

 

Sammler von Modernisierungs-Opfern

 

Ai ist vor allem Sammler; das Anlegen von Antiquitäten-Kollektionen hat in Chinas Elite eine lange Tradition. Seinen Kennerblick dürfte der Vater Ai Qing, ein berühmter Dichter, geschult haben: 18 Jahre lang wurde Ais Familie als politisch Verfolgte bis 1976 in die westchinesische Provinz Xinjiang verbannt.

 

Nach zehn Jahren US-Aufenthalt, vor allem in New York, kehrte Ai 1993 nach Peking zurück und verbrachte viel Zeit auf Flohmärkten und bei Trödlern. Er kaufte günstig auf, was im beginnenden Modernisierungs-Taumel ausgemustert wurde: von neolithischen Werkzeugen über klassische Keramik bis zu alten Holzmöbeln. Seine Fotoserie „Dropping a Han Dynasty Urn“ von 1995, in der er ein 2000 Jahre altes Gefäß fallen und zerschellen ließ, kommentierte diese besinnungslose Entsorgung des Kulturerbes.

 

Schwemme von Schemeln + Flusskrebsen

 

Vasen aus der Han-Epoche vor zwei Jahrtausenden stehen auch in der Ausstellung; hier in glänzenden Autolack getaucht, der ihre Patina zerstört, aber sie zugleich konserviert. Im schrundigen Original-Zustand belassen sind dagegen 6000 Holz-Schemel, die den Lichthof des Gropiusbaus füllen: Relikte dörflichen Lebens, das durch Landflucht erstirbt. Kehren Wanderarbeiter zurück, bringen sie Plastikstühle mit.

 

Im Reich der 1,3 Milliarden Menschen setzt Ai auf Überwältigung durch schiere Masse: Aus Porzellan nachgeformte Flusskrebse überschwemmen den Fußboden. Ein Wortspiel: Im Chinesischen lauten die Silben für „Flusskrebs“ und regierungsamtlich verordnete „Harmonie“ gleich – von Zensur mundtot gemachte Bürger ähneln Amphibien. Oder Sonnenblumenkernen: Millionen davon, ebenso aus handbemaltem Porzellan, schüttete Ai 2010 in der Tate Gallery aus.

 

Marmor-Kameras + Jade-Handschellen

 

Ein Sammler will alles zusammentragen, was sein Interesse erregt, anordnen und vorzeigen. Chinas Regierung vertuschte das Ausmaß des Erdbebens in der Provinz Sichuan 2008: Zehntausende starben, weil beim Bau ihrer Häuser gepfuscht worden war. Ai ließ via Internet die Namen von Tausenden der Opfer registrieren – und 200 Tonnen Armierungs-Stahl aus dem Katastrophen-Gebiet in sein Atelier schaffen, wo er zu Skulpturen verarbeitet wurde.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung   Ai Weiwei in New York mit Fotografien 1983 - 1993 im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Dokumentation "Ai Weiwei - Never Sorry" von Alison Klayman

 

und hier einen Bericht über die Debatte "Ai Weiwei: art, dissidence and resistance" mit hochrangigen chinesischen Teilnehmern im August 2011 im Haus der Kunst, München

 

und hier einen Beitrag über den Film "Shanghai, Shimen Road"
von Haolun Shu über die Desillusionierung von Chinas Jugend 1989.

 

Nun liegen die corpora delicti im Gropiusbau, teils in Marmor nachgebildet. Wie alte Holztüren, Video-Überwachungs-Kameras und Modelle der Diaoyu-Inselgruppe, um die Beijing und Tokio streiten: aufgewertet durch kostbares Material, das in China seit jeher geschätzt wird. Anderes lässt Ai in Jade anfertigen; etwa Handschellen, die er während der Haft tragen musste, oder eine Gasmaske auf einem Grabstein als Protest gegen Luftverschmutzung.

 

Spurensuche der Dissidenz

 

Wird dabei die Vorlage noch transformiert, belässt es Ai in anderen Fällen beim readymade: einem 1:1-Nachbau seiner Haftzelle samt kargem Mobiliar oder der Computer-Ausrüstung seines Büros, die 2011 von der Polizei beschlagnahmt worden war.

 

Bauschutt seines Ateliers in Schanghai, das die Behörden 2011 abreißen ließen, stellt er als „Souvenir from Shanghai“ aus. Solches Ausbreiten der eigenen Lebenswelt im Kunst-Kontext ist nicht neu: „Spurensuche“ nannte man das in den 1970er Jahren – und ließ rasch davon ab, weil banaler Alltagskram die Besucher anödete.

 

Ätherischer Fahrrad-Rundturm

 

Ai Weiwei sieht das anders. Er begreift seine Dissidenten-Existenz als exemplarisch für die Lebensbedingungen seiner Landsleute, denen Korruption und Überwachung zusetzen; deshalb führt er sie drastisch vor Augen. Das gelingt ihm unter weitgehendem Verzicht auf Sinn-Überschuss. Die Exponate gehen völlig in ihrer politischen Aussage auf; ihre chinesischen Kontexte erläutern die Wandtafeln im Gropiusbau mustergültig.

 

Nur in der Eingangshalle behält autonome Ästhetik die Oberhand: 150 Fahrräder sind zu einem Schwindel erregenden Rundturm verschraubt. Er soll an den Fall eines Fahrradfahrers erinnern, der zu Unrecht festgenommen, gefoltert und zum Tode verurteilt wurde. Das ist dem ätherischen Gebilde kaum anzusehen – aber es begeistert mit seiner wundersam lichten Konstruktion.