Kassel + Berlin

Wols – Aufbruch nach 1945 + Photograph: Der gerettete Blick

Komposition mit rotem Fleck um 1945/46, Feder in Schwarz, Aquarell und Kreide auf Bütten, 21,7x 26,5 cm, Museumslandschaft Hessen Kassel. Foto: Ute Brunzel. Quelle: MHK
Sehen, was ist: Der früh verstorbene Informel-Künstler fotografierte unscheinbare Strukturen und schuf als Grafiker fantastische Gebilde, die als große Befreiung galten. Zwei Werkschauen in Neuer Galerie und Gropius-Bau ergänzen sich hervorragend.

Er kultivierte einen rock’n’roll lifestyle, bevor es das Wort überhaupt gab. Da er sein halbes Leben in Frankreich verbracht hat, spricht man besser von einer radikalen bohémien-Existenz. Dazu passte sein biederer Taufname Alfred Otto Wolfgang Schulze (1913–1951) schlecht. Also signierte er seine Werke mit WOLS.

 

Info

 

Wols –
Aufbruch nach 1945

 

14.03.2014 - 15.06.2014

täglich außer montags

10 bis 17 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr in der Neuen Galerie, Schöne Aussicht 1, Kassel

 

Katalog 24,95 €

 

Weitere Informationen

 

Wols Photograph:
Der gerettete Blick

 

15.03.2014 - 22.06.2014

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr

im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Berlin

 

Katalog 33 €

 

Weitere Informationen

 

Aus gutbürgerlichem Hause stammend, zog der erst 19-Jährige 1932 nach Paris, wo er die Frau seines Lebens traf. Gréty Dabija, Modistin rumänischer Herkunft, führte ihn in die Kreise der Surrealisten ein; er lernte Künstler wie Hans Arp, Giacometti und Alexander Calder kennen.

 

Modepuppen auf Weltausstellung

 

Nach drei Jahren in Spanien kehren beide 1936 nach Paris zurück. Wols arbeitet erfolgreich als Fotograf, porträtiert Berühmtheiten wie Max Ernst und wird beauftragt, auf der Weltausstellung den Pavillon de l’Élégance zu dokumentieren. Den zeigt er als bizarren Modepuppen-Irrgarten, ein Vexierspiel aus Torsi und Schatten; seine Aufnahmen verkaufen sich als Postkarten blendend.

 

Dann beginnt der Zweite Weltkrieg; als „feindlicher Ausländer“ wird Wols 14 Monate lang in diversen Lagern interniert. Das schadet seiner Gesundheit und befördert seine Kunst: Er verfällt allmählich dem Alkohol und fertigt zugleich Zeichnungen und Aquarelle an. Ab 1942 versteckt er sich mit Gréty in Südfrankreich bis Kriegsende.

 

„Wols hatte alles vernichtet“

 

1945 hat Wols die erste von zwei Ausstellungen zu Lebzeiten: Die Pariser Galerie Drouin zeigt 50 Grafiken. Sein Galerist ermutigt ihn, auch in Öl zu malen; der Künstler stürzt sich in einen Schaffensrausch. 1947 folgt die Aufsehen erregende zweite Schau in derselben Galerie. „Wols hatte alles vernichtet. Nach Wols war alles neu zu machen“, notiert der französische Maler Georges Mathieu „ganz erschüttert“ nach seinem Besuch.

Impressionen der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin


 

Sartre zahlt Hotelrechnungen von Wols

 

Mathieus postapokalyptisches Pathos mag heute übertrieben scheinen, doch das Interesse an Wols‘ Arbeiten wächst schlagartig. Er nimmt an größeren Gruppenausstellungen teil. Verleger lassen ihn Schriften von Antonin Artaud, Kafka oder Jean-Paul Sartre mit Radierungen illustrieren. Der Vordenker des Existentialismus begleicht zuweilen seine Hotelrechnungen, wenn Wols nicht zahlen kann.

 

Was oft vorkommt: Obwohl sich Gréty etliche seiner Werke verkauft, ist der Künstler chronisch pleite und muss häufig das Quartier wechseln. Nichtsdestoweniger zieht der Nonkonformist nachts durch Jazz-Clubs. 1951 fordert der Alkohol seinen Tribut: Bei angegriffener Gesundheit stirbt er mit nur 38 Jahren an Fleischvergiftung. Bald darauf wird er als peintre maudit zum Mythos und zum Gründervater des Informel erhoben, der vorherrschenden Kunstrichtung der 1950er Jahre.

 

Anfangs vom Surrealismus beeinflusst

 

Die Popularität dieses auch Tachismus genannten Stils ist ebenso verblasst wie der Nachruhm von Wols. Doch aus Anlass seines 100. Geburtstags präsentieren bundesweit Museen sein Gesamtwerk – und beleuchten überraschende Aspekte. Nach Retrospektiven 2013 in Bremen und Wiesbaden folgen nun die Neue Galerie in Kassel mit Bildern aus der Nachkriegszeit und der Martin-Gropius-Bau mit Fotografien, die im Vorjahr bereits in Dresden zu sehen waren.

 

Die Kasseler Ausstellung konzentriert sich auf Wols‘ kleinformatige Arbeiten: Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen. Eine chronologischer Hängung veranschaulicht, wie seine Grafik anfangs noch vom Surrealismus beeinflusst war: Liebliche Pastellfarben deuten Räume an, in denen sich fantastische Fabelwesen tummeln. Allerlei Auswüchse verleihen ihnen etwas unheimlich Abgründiges.

 

Mikroben im Mikroskop, Gestirne im Teleskop

 

Diese Protuberanzen drängen allmählich das Figurative zurück und gewinnen ein Eigenleben: Sie komprimieren sich zur zentralen Form, die der Künstler oft mittig aufs Papier setzt. In ihr schlängelt und ballt sich ein dichtes Gewirr aus Linien, lässt Auswüchse entstehen oder verdichtet sich zu feinsten Binnenstrukturen, die keineswegs zufällig entstehen.

 

Wols gab seinen Arbeiten meist keine Titel und verwahrte sich gegen Interpretationen: Man solle einfach wahrnehmen, „was ist“. Dabei lösen viele seiner Bilder in teils giftigen Farben sofort Assoziationen aus. Sie erinnern an Geschlechtsteile, innere Organe oder Großbauten – die in ihrer Verschachtelung so visionär wie bedrohlich wirken: wie Blicke durch Mikroskope auf Mikroben oder durch Teleskope auf ferne Gestirne.

 Jeder hat alle subjektiven Freiheiten

 

Mit diesen fremdartigen Gebilden lässt das Museum die Besucher nicht allein: Kurze Legenden erläutern jedes Werk mustergültig. Zugleich lässt die Unbestimmbarkeit dieser Formen dem Künstler wie dem Betrachter alle subjektiven Freiheiten.

 

Für diese Befreiung der Formen vom Diktat, etwas Konkretes darzustellen oder Eindeutiges auszudrücken, wurde Wols von seinen Zeitgenossen bewundert. In der Nachkriegszeit ließ der Wunsch nach tabula rasa Künstler nach völlig neuen Bildsprachen suchen, die alles Geläufige hinter sich lassen sollten.