Annekatrin Hendel

Anderson

Alexander (Sascha) Anderson im Studio. Foto: Edition Salzgeber
(Kinostart: 2.10.) Mit Sascha Arschloch in der Wohnküche: Regisseurin Hendel befragt den prominentesten Stasi-Spitzel der DDR-Subkultur und seine damaligen Freunde und Opfer. Eine nüchterne und aufschlussreiche Bestandsaufnahme zum Thema Verrat.

Wer im Ostberlin den frühen 1980er Jahre im kulturellen underground vom Prenzlauer Berg mitmischen wollte, kam an Sascha Anderson nicht vorbei. Bei ihm liefen alle Strippen zusammen. Er kannte praktisch jeden, vernetzte Leute, organisierte Lesungen, Ausstellungen und Konzerte, hatte West-Kontakte und war nebenbei auch noch Poet.

 

Info

 

Anderson

 

Regie: Annekatrin Hendel,

90 Min., Deutschland 2014;

mit: Sascha Anderson, Bert Papenfuß, Roland Jahn

 

Website zum Film

 

Was damals keiner wusste: Die Stasi war in seiner Person immer mit von der Partie. Regelmäßig traf sich Anderson mit seinem Führungsoffizier und plauderte ausführlich über seinen Freundeskreis von Dissidenten. Als er 1991 zufällig aufflog, war die Aufregung groß. Der sichtlich verletzte Liedermacher Wolf Biermann stritt vor laufenden TV-Kameras mit Anderson und nannte ihn „Arschloch“; seither ist er zumindest eine Randnotiz in deutschen Geschichtsbüchern.

 

Zweiter Teil einer Verräter-Trilogie

 

Auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung sind die Betroffenen immer noch tief verletzt; davon erzählen die meisten Protagonisten freimütig im Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel. „Anderson“ ist der zweite Teil ihrer „Verräter-Trilogie“ – nach „Vaterlandsverräter“ über den spitzelnden Schriftsteller Paul Gratzik.


Offizieller Filmtrailer


 

Rückblick auf die Prenzlberg-Szene

 

Abermals ist die Hauptfigur ein Spitzel und Schriftsteller, doch seine Geschichte steht der Regisseurin wesentlich näher: Sie bewegte sich in den 1980ern Jahren selbst in der alternativen Szene von Ostberlin. Dennoch brauchte es viel Überzeugungsarbeit, um Sascha Anderson und viele seiner ehemaligen Mitstreiter vor die Kamera zu locken.

 

Dabei entsteht nicht nur ein schillerndes Porträt des äußerst zerrissenen und nicht sonderlich sympathischen Protagonisten. Der Film ist auch ein persönlich gefärbter Rückblick auf die damalige Prenzlauer-Berg-Szene, in die Regisseurin Hendel den Zuschauer sachlich und unsentimental einführt.

 

Stramm kommunistisch erzogen

 

Diese Szene war eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft; sie wurde von den DDR-Behörden geduldet, aber auch mit Argwohn betrachtet und ausgehorcht. Überzeugungstäter wie Sascha Anderson waren selten unter den Stasi-Zuträgern. Er war nach eigener Aussage stramm kommunistisch erzogen, bereits als Teenager angeworben worden und lange davon überzeugt, das Richtige zu tun.

 

Ende der 1970er Jahre wird er gezielt in die Szene eingeschleust und dort rasch zur wichtigen Figur – mit einem Doppelleben, das ihm auch zusetzt. Öfter aufkommenden Verdacht, er sei ein Spitzel, kann er immer wieder entkräften. Als er enttarnt wurde, waren Wut und Enttäuschung seiner ehemaligen Freunde und Mitstreiter umso größer; heute meiden sie ihn fast alle.

 

Interviews im Wohnküchen-Nachbau

 

Einige von ihnen holt Regisseurin Hendel vor die Kamera: etwa den heutigen Stasi-Beauftragten Roland Jahn, den Autor Bert Papenfuß oder den Kameramann Thomas Plenert. Sie schildern, wie sie Anderson damals wahrnahmen: Er war offenbar ein charmanter Lügner mit Charisma. Einmal saß er wegen Scheckbetrugs im Knast; später hatte er Umgang mit vielen Größen des (Sub-)Kulturbetriebs.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Westen" - packendes Drama über DDR-Flüchtlinge von Christian Schwochow

 

und hier einen Bericht über den Film “Das System – Alles verstehen heißt alles verzeihen” über profitable Stasi-Seilschaften von Marc Bauder

 

und hier eine Besprechung des Films “Westwind” – bittersüßes Melodram über DDR-Flucht aus Liebe von Robert Thalheim.

 

Als Reminiszenz an die DDR-Oppositionskultur befragt Regisseurin Hendel ihre Gesprächspartner in den Küchen ihrer Wohnungen; dort ging damals die Szene ein und aus. Für die Interviews mit Anderson selbst überrascht ihn Hendel mit einem originalgetreuen Studio-Nachbau der Wohnküche seines Ex-Freundes Ekkehard Maaß, die einst Schauplatz vieler heißer Diskussionen und Partys war.

 

Keiner spricht mehr mit ihm

 

In die echte Küche würde Anderson, der heute komfortabel in Frankfurt am Main lebt, nicht mehr eingelassen. Dennoch fühlt er sich im Nachbau äußerst wohl; bis zu einem gewissen Grad gibt er sich erstaunlich ehrlich und reflektiert. Er räumt ein, seine Freunde angeschwärzt zu haben, hat aber immer auch eine Rechtfertigung parat. Anderson erzählt viel, bleibt aber nicht greifbar; es fällt schwer, ihm seine Aussagen uneingeschränkt zu glauben.

 

Im Nachhinein hat er sich offenbar Erklärungen zurecht gelegt, mit denen er gut leben kann; damit demontiert er auch seinen Nimbus als gefallener Dissident. Von den Opfern spricht bis auf Papenfuß, mit dem er seit den 1990er Jahren gemeinsam Bücher herausgibt, wohl niemand mehr mit ihm. Seine früheren Freunde haben meist nur noch Mitleid für ihn übrig.

 

Gut, dass es vorbei ist

 

Diese Fallgeschichte ist zwar nicht typisch, zeigt jedoch eine Facette ostdeutscher Kulturgeschichte, die man selten so ungeschönt zu sehen bekommt. Dabei bringt einem Hendels Doku die Person Anderson kaum näher, zumal er keinerlei Reue bekundet. Zurück bleiben ein schales Gefühl und Erleichterung, dass das alles vorbei ist. Spannend bleibt es jedoch allemal.