Juliette Binoche

Die Wolken von Sils Maria

Maria Enders (Juliette Binoche, l.) und ihre Assistentin Valentine (Kristen Stewart, r.). Foto: © Pallas Film / NFP Carole Bethuel
(Kinostart: 18.12.) Mit Nietzsche, Wolkenbänken und Theater-Premieren in die Schweizer Berge: Regisseur Olivier Assayas lässt Juliette Binoche an den Ort ihres Durchbruchs zurückkehren – für eine vielschichtige Film-Reflexion über das Drama des Lebens.

Und nun zum Wetter: Die „Schlange von Maloja“ ist ein Phänomen in den Schweizer Alpen, bei dem sich eine Wolkenschicht durchs Tal schiebt wie ein riesiger weißer Lindwurm. Das hat der deutsche Bergfilmer Arnold Fanck schon 1924 in einem Kurzfilm festgehalten. Diesen Faden nimmt nun der französische Filmemacher Olivier Assayas wieder auf.

 

Info

 

Die Wolken von Sils Maria

 

Regie: Olivier Assayas,

124 Min., Frankreich/ Schweiz/ Deutschland 2014;

mit: Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger

 

Website zum Film

 

Assayas hat zuletzt mit „Carlos – Der Schakal“ und „Die Wilde Zeit“ geradlinige, kraftvolle period pieces über die linksradikale Szene der 1970er Jahre gedreht. „Die Wolken von Sils Maria“ ist völlig anders: ein wunderlicher, verworrener Film, in dem sich die Vergangenheit in der Gegenwart selbst einholt.

 

Tod im Engadin

 

Anstelle einer wirklichen Handlung hält den Film ein Geflecht von Bezügen zusammen. Ein Ausgangspunkt ist das Dorf Sils Maria im Engadin: Hier verstirbt zu Beginn der Schweizer Schriftsteller Wilhelm Melchior – kurz bevor er in Zürich einen wichtigen Literaturpreis erhalten soll. Dabei sollte seine Freundin, die Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche), die Festrede vortragen.


Offizieller Filmtrailer


 

Erster Erfolg als femme fatale

 

Die Nachricht von Melchiors Tod erreicht sie auf der Zugfahrt zur Preisverleihung. Vor 20 Jahren begründete die Rolle der jungen femme fatale Sigrid in seinem Theaterstück „Maloja-Schlange“ ihre Karriere; das erfährt man in der langen Eingangsszene, in der sie und ihre Assistentin Valentine (Kristen Stewart) eingeführt werden.

 

Beide reden Allerlei über Termine, schlechten Mobiltelefon-Empfang, Banales und Vergangenes. Dabei wird der Umgang der beiden Frauen miteinander deutlich; zugleich kommen Bruchstücke der Hintergrund-Geschichte zur Sprache, die Regisseur Assayas allmählich aufbaut.

 

Seitenwechsel vom Täter zum Opfer

 

Maria sieht mit Unbehagen der Begegnung mit einem Kollegen entgegen, mit dem sie einst ein Verhältnis hatte. Dann überredet sie ein gefeierter Theater-Regisseur (Lars Eidinger), der Melchiors Stück neu inszenieren will, darin die Rolle der Helena zu spielen – einer älteren Frau, die Sigrid hoffnungslos verfallen ist.

 

Das stürzt Maria in eine Krise. Während sie in Melchiors Haus in Sils Maria mit Valentine an ihrer Rolle arbeitet, fragt sie sich: Wie viel von meiner Person steckt in dieser Rolle? Wie viel von dieser Rolle steckt in meiner Karriere? Was passiert, wenn ich die Seite wechsele: von der jugendlichen Täterin zum alternden Opfer?

 

Nur Kündigung überrascht

 

Dann taucht die neue Sigrid auf: das Hollywood-Starlet Jo-Ann (Chloë Grace Moretz). Sie wurde mit einem Superhelden-Film berühmt, tritt in talk shows erfrischend schlagfertig auf; und stolpert nun in der Schweiz in einen yellow press-Skandal. All das passiert, und doch passiert irgendwie nichts. Überraschend ist nur, das Valentine unvermittelt kündigt. Mit der Theater-Premiere endet der Film – was tun mit dieser Geschichte voller loser Enden?


"Das Wolkenphänomen von Maloja": Bergfilm von Arnold Fanck, 1924


 

Am Ort von Nietzsches ewiger Wiederkehr

 

Versuchen wir, ein paar Enden zu verbinden: Die Wolken-Schlange ist real, und ebenso der Film von Arnold Fanck. Fiktiv sind die Protagonisten, aber deren Beziehungen zueinander haben ihrerseits reale Hintergründe. Regisseur Assayas und Juliette Binoche lernten sich 1985 am Set von André Techinés Film „Rendez-vous“ kennen und drehten 23 Jahre später gemeinsam „L’heure d’été“. Dabei vereinbarten sie das nächste Filmprojekt: „Sils Maria“.

 

Der Ort ist mit Bedacht gewählt: In Sils Maria kam der Philosoph Friedrich Nietzsche auf die für ihn zentrale Idee einer „ewigen Wiederkehr“ in kosmischen Zyklen. Auch Maria kommt auf dem Höhepunkt ihrer Karriere hierher zurück. Und in Jo-Anns career move vom Superhelden-Kostüm zum Literatur-Theater spiegelt sich die reale Laufbahn der Darstellerin Chloë Grace Moretz: von Comic-Verfilmungen wie „Kick-Ass“ 1 und 2 zu Assayas‘ Meta-Autorenfilm. Wie auch die Besetzung von Marias Assistentin: Kristen Stewart spielt sich damit von ihrem Teenie-Vampirfilm-Image frei.

 

EU-Hochkultur gegen US-Unterhaltung

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Regisseur Olivier Assayas über "Die Wolken von Sils Maria"

 

und hier eine Besprechung des Films “Die wilde Zeit” – über die Ära französischer K-Gruppen der 1970er Jahre von Olivier Assayas

 

und hier eine Besprechung des Films “Maps to the Stars” – sarkastische Satire über die Filmbranche in L.A. von David Cronenberg

 

und hier einen Beitrag über den Film  “Cosmopolis” – brilliantes Finanzhai-Psychogramm mit Juliette Binoche von David Cronenberg.

 

Zudem stellt Regisseur Assayas zwei Welten gegeneinander: Einerseits die großbürgerliche Hochkultur Europas mit subventionierten Staatstheatern, intellektuellen Debatten, Preisverleihungs-Ritualen und anspruchsvollen Autorenfilmen – die langsam wegstirbt. Andererseits US-Unterhaltung mit Starkult und gossip, die global vermarktet wird – aber dabei auf Anerkennung und Prestige in der Hochkultur-Sphäre schielt.

 

Dabei entsteht ein vielschichtiges Konstrukt, in dem im Alltäglichen Strukturen und Muster hervortreten, die für viele Deutungen offen sind: ein Drama im Drama über das Drama des Lebens, das anstelle von Autoren eine doppelte Leerstelle aufweist. Theater-Autor Melchior ist tot, und ein Drehbuch scheint zu fehlen: Die großartig gespielten Szenen wirken wie Improvisationen über ein vorgegebenes Thema.

 

Meta-Schauspiel über Frage: Was tun?

 

Der Film hat dabei eine angenehme Leichtigkeit, weil der lakonische Stil kein Pathos zulässt. Die story amüsiert mit ironischen Wendungen, die Inszenierung mit liebevoll ausgearbeiteten Gesten und Details. Juliette Binoche verleiht diesem Meta-Schauspiel wunderbare nonchalance – als Schauspielerin, die immer wieder riskante Projekte mit anspruchsvollen Regisseuren angeht: diesmal mit Olivier Assayas. Diesen zwei Profis, die wissen, was sie tun, dabei zuzusehen, wie sie sich fragen, was sie da tun, ist ein ganz eigenes Vergnügen.