Berlin

Pasolini Roma

Pier Paolo Pasolini am Set von "Teorema", 1968, © Angelo Novi / Fondazione Cineteca di Bologna. Fotoquelle: Martin-Gropius-Bau, Berlin
Er war einer der klügsten Künstler des 20. Jahrhunderts: Der schwule Katholik und Marxist Pier Paolo Pasolini sezierte in Wort und Film messerscharf die Verheerungen der Moderne. Nun feiert ihn der Gropius-Bau – und schreckt vor seiner Radikalität zurück.

TV beendet Epoche des Mitgefühls

 

Keiner dieser Film ähnelt dem anderen. Doch alle greifen Motive auf, die Pasolini ständig beschäftigten: Spielarten der Volks- und Subkultur, alteuropäisches Erbe, authentische Aufrichtigkeit, Begehren der Körper und Sex – und die verheerende Verflachung von Lebenswelt und sozialen Beziehungen durch Massenkonsum und elektronische Medien. Einer der größten Erneuerer des Kinos war zugleich scharfer TV-Kritiker: „Das Fernsehen hat die Epoche des Mitgefühls beendet und eine Epoche des Hedonismus heraufgeführt.“ Youtube hätte ihm wohl kaum besser gefallen.

 

Wie bündelt man dieses enorme Œuvre, das in alle Richtungen ausstrahlt, in einer Ausstellung? Am Ort ihrer Entstehung: Rom. In sechs Abteilungen zeigt jeweils ein Stadtplan an, wo Pasolini damals wohnte, arbeitete und wen er aufsuchte. Das Raster dieser Bio-Topographie füllen zahllose Fotos, Film-Ausschnitte, Bilder – von ihm selbst und geschätzten Malern – und gadgets. Vom Original-Fiat bis zum fake-Grabstein für Antonio Gramsci: Dem KP-Theoretiker widmete Pasolini seinen Gedichtband „Gramscis Asche“ (1957).

 

33 Mal vor Gericht gestellt

 

Der wird ebenso ausführlich zitiert wie andere Schriften – bei diesem homme de lettres unerlässlich. Die sprachgewaltige Kühnheit seines Denkens überrascht bis heute; er war seinen Zeitgenossen um Jahrzehnte voraus. Insbesondere dann, wenn sie sich revolutionär dünkten: 1968 hielt er verblüfften Studi-Revoluzzern vor, sie hätten keine Ahnung von den Arbeitern, für deren Rechte sie vermeintlich kämpften.

 

Kein Wunder, dass dieser unbeirrbare Einzelgänger systematisch Ärger bekam: Insgesamt 33 Mal stand Pasolini vor Gericht – wegen Blasphemie, Homosexualität, Sittenwidrigkeit usw. Er gewann alle Prozesse, wurde aber den Makel der Skandalnudel nicht los. Spuren der Scheu, sich vorbehaltlos auf sein Schaffen einzulassen, finden sich sogar in dieser Hommage-Ausstellung: Sein letzter Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ von 1975 kommt kaum vor.

 

Schockierendste Dystopie der Filmgeschichte

 

In seinem opus magnum verlegt Pasolini die sexuellen Erniedrigungs- und Vernichtungsfantasien des Marquis de Sade in die Endphase von Mussolinis Regime: Eine Bande faschistischer Schergen quält Jugendliche auf abscheuliche Weise zu Tode. Verglichen mit der Drastik einschlägiger SM-Pornographie sind die Bilder eher dezent – doch so geschickt montiert, dass sie keinen Zuschauer kalt lassen. Grausame Ironie: Kurz vor der Premiere wurde Pasolini ermordet; bis heute ist ungeklärt, warum.

 

Diese cineastische Grenzerfahrung ist immer noch in vielen Ländern verboten – was für die Genialität des Regisseurs spricht. Der hatte keine Vergangenheits-Bewältigung im Sinn, sondern malte seine rabenschwarze Vision der Zukunft aus: als einer hoch technisierten, aber auf primitivste Bedürfnisbefriedigung reduzierten Gesellschaft, in der sich Mächtige jeden Sadismus erlauben können. Was immer man davon hält: Eine schockierendere Dystopie ist nie wieder gedreht worden.

 

Schweigen über notorische Pädophilie

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Beitrag über den Film "La Grande Bellezza" von Paolo Sorrentino über Pasolinis + Fellinis Rom, prämiert mit Auslands-Oscar + Europäischem Filmpreis 2014

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Fassbinder – Jetzt: Film und Videokunst" - im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt am Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Martin Scorsese" - erste Retrospektive des US-Regisseurs weltweit im Museum für Film und Fernsehen, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ingmar Bergman – Von Lüge und Wahrheit" über das Gesamtwerk des schwedischen Regisseurs im Museum für Film und Fernsehen, Berlin.

 

Es spricht für die Kraft von Entwurf und Ausführung, dass noch 40 Jahre später dieser Film nur mit Fingerspitzen angefasst wird. Wie auch Pasolinis freimütige Bekenntnisse zu seiner Homosexualität, die er mit unzähligen Jünglingen auslebte – von denen keiner wissen will, ob sie minderjährig waren.

 

Nach heutigen Maßstäben war er vermutlich notorischer Pädophiler und müsste harte Strafen gewärtigen. Auch das verschweigt die Schau schamhaft: quod licet Iovi, non licet bovi – und das bei einem Künstler, der wie kein zweiter den Nexus zwischen erotischer und kreativer Energie gefeiert hat.

 

Was kein Anlass sein sollte, ihn zu verdammen oder umgekehrt Kindesmissbrauch zu beschönigen. Sondern viel eher, sich Pasolinis Eros-Verständnis vor Augen zu führen: angelehnt an die antike paiderastia als sexueller Komponente allseitiger Bildung – die nur als persönliches Vertrauensverhältnis möglich ist. Ohne das entgeht Heranwachsenden etwas, ganz unabhängig von jeder Altersgrenze.

 

Genies mit Denkmälern beerdigen

 

Solche Überlegungen waren für den furchtlosen Freidenker Pasolini selbstverständlich; im Sinne eines mitfühlenden Humanismus, dessen Moral auf erfülltes Dasein zielt. Doch derlei Konsequenz ist unserer neoprüden Gegenwart fremd. Sie beschränkt ihre Debatte über Sexualität auf juristische Feinsteuerung; derweil sollen sich wollüstige Triebe keimfrei bei XXX-Gigabyte im Internet austoben.

 

Damit bestätigt sie Pasolinis kulturpessimistische Diagnose zur Totalentfremdung durch Konsumismus aufs Traurigste. Was seine Nachfahren nicht hindert, ihn mit einer prachtvollen Ausstellung zu feiern: Am wirkungsvollsten überantwortet man tote Genies dem Vergessen, indem man ihnen Denkmäler setzt.