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Fantastische Welten – Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500

Unbekannter Meister: Apostel-Zone des Mittelschreins des ehemaligen Hochaltar-Retabels der Zisterzienser-Kirche Zwettl, ca. 1516/25, Lindenholz. Foto: Städel Museum
Von wegen ruhige Renaissance: Künstler wie Albrecht Altdorfer und Wolf Huber nahmen mit grellen Effekten und wild wuchernden Formen die Schock-Ästhetik des Expressionismus vorweg – das zeigt eine grandiose Schau im Städel und Kunsthistorischen Museum.

El Greco auf LSD, Grabmal mit Zombie

 

Altdorfer oder seine Werkstatt zeichnet eine „Beweinung Christi“, auf der er gar nicht zu sehen ist, weil ihn ein Sitzender verdeckt. Stattdessen prangt in der Bildmitte ein Schächer-Kreuz, dessen Blickwinkel der Betrachter einnimmt – also den eines Sünders. Auf einem Holzschnitt von Wolf Huber explodieren Sonnenstrahlen unter Jesus. Und Georg Lemberger verwandelt die Heilsgeschichte von Sündenfall bis Erlösung in ein psychedelisches Panorama kalter Farben und greller Lichtreflexe, als hätte El Greco einen LSD trip eingeworfen.

 

Anderen Klassikern gewinnen diese Künstler gleichfalls völlig neue Ansichten ab: Altdorfer malt eine nächtliche „Geburt Christi“ in einer zerfallenen Stall-Ruine, in der das Licht vom Kind ausgeht – neben drei weiteren Lichtquellen. Auf seiner „Anbetung der Könige“ kauern kostbar gekleidete Figuren vor surreal kombinierten Monumenten aus Antike und Gotik. Wolf Huber stellt Jesus als muskulösen Athleten dar, wie ihn der Meister IP schnitzt – und ihm auf einer „Epitaph-Retabel“ einen halbverwesten Leichnam beigesellt. Eine Zombie-Szene als Grabmal.

 

Fichte schießt wie Rakete aus dem Boden

 

Diese Künstler können auch weniger drastisch sein. Etwa im Angesicht der Natur: Sie schaffen die ersten autonomen Landschaftsbilder – auf denen Landschaften nicht mehr Beiwerk, sondern das eigentliche Thema sind. Wenn darin Gebäude oder Menschen auftauchten, dann meist winzig klein; stattdessen werden Gestein oder Bäume zu dramatischen Akteuren.

 

Eine Federzeichnung von Altdorfers Bruder Erhard, der in Schwerin wirkte, sieht aus, als schösse seine „Große Fichte“ wie eine Rakete aus dem Boden; ihre Zweige spreizen sich bedrohlich wie Spinnenfinger. Wolf Hubers „Große Landschaft mit Golgatha“ versetzt die ganze Welt in harmonische Schwingungen aus Gelb- und Blautönen. Altdorfer und Huber skizzieren auch allerlei Wälder, die wie Unterwasser-Dschungel oder science fiction-Kulissen aussehen.

 

Verwachsene Figuren gegen horror vacui

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung Drunter und Drüber – Altdorfer, Cranach und Dürer auf der Spur mit Werken von Albrecht Altdorfer in der Alten Pinakothek, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dürer. Kunst – Künstler – Kontext" - grandiose Ausstellung im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung Meister der Dürerzeit über Hans Baldung, gen. Grien, in der Gemäldegalerie, Berlin

 

Was häufig an der drangvollen Enge liegt, die hier herrscht. Überall wogt und bauscht, wuselt und flimmert es; kein Quadratzentimeter bleibt unausgefüllt. Horror vacui, Angst vor der Leere, setzt diesen Künstlern zu; als müssten sie wie Demiurgen ihre selbst geschaffenen Bildwelten komplett bevölkern.

 

In Fläche und Raum: Um 1520 zwängt ein unbekannter Meister auf das Hochaltar-Retabel der Zisterzienser-Kirche Zwettl derart viele Figuren, als seien sie miteinander verwachsen. Und auf einem Relief zum „Martyrium der hl. Katharina“ aus der Werkstatt von Meister HL in Breisach versinken die Heilige und ihre Verfolger im Dickicht hölzerner Ornamente.

 

30 Jahre für 1. + 2. Expressionismus

 

Was den Schnitzer dazu anregte, bleibt unklar; wie bei manch anderem Exponat. Mag sein, dass die dürftige Quellenlage der Forschung keine genaueren Aussagen erlaubt. Trotzdem wüsste man gern mehr darüber, wie der „nordeuropäische Manierismus“ aufkam und sich ausbreitete, den die Ausstellung postuliert – nicht nur im Donauraum, den sie damit entgrenzt.

 

Vielleicht steht dem entgegen, dass die Bewegung so rasch verebbte, wie sie entstanden war. Nach 1540 steuerte die Kunst wieder in ruhigeres Fahrwasser. Lag es daran, dass die Reformation religiöse Bilder ablehnte, während die katholische Kirche auf traditionelle Formeln setzte? Oder hatten sich die Zeitgenossen an nervösen Tumulten schlicht satt gesehen? Jedenfalls hat dieser expressive Stil die kurze Dauer mit seinem Nachfolger um 1900 gemein: Mitte der 1920er Jahre löste ihn die Neue Sachlichkeit ab.