Frankfurt am Main

Poesie der Großstadt – Die Affichisten

Jacques Villeglé: L'Anonyme du dripping, 1967, Plakatabriss auf Leinwand, 200 x 320 cm; © VG Bild-Kunst Bonn, 2015, Stedelijk Museum, Gent. Fotoquelle: Schirn
Unter der Werbebotschaft liegt die Bedeutung: In den 1950er Jahren kultivierten Künstler den Plakatabriss als Kunstform. An die abstrakt-textuelle Schönheit ihrer Kreationen erinnert eine große Retrospektive in der Schirn Kunsthalle.

Provokation für Informel-Maler

 

Die Affichisten wurden einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als die Werke von Hains, Jacques und Dufrêne 1959 auf der ersten Pariser Biennale ausgestellt wurden. Dort wurden ihre Arbeiten gemeinsam mit Bildern der abstrakten Maler des Informel präsentiert – was für letztere eine arge Provokation war.

 

Die Werke beider Gruppen mochten sich zwar äußerlich ähneln. Doch während die informellen Maler ihre Bilder als radikalen Ausdruck ihrer Individualität ansahen, hatten die Affichisten die revolutionäre Idee einer Kunst, die von allen gemacht werden konnte. Normale Reklameplakate bildeten sichtbar die Grundlage ihrer Kunst.

 

Abreißen der Haut von Rom

 

Zusätzlich irritierte, dass zur Hochzeit der Dominanz abstrakter Kunst die Werke der Affichisten vereinzelt figurative Elemente aufwiesen. Immer wieder sind bei ihnen inmitten zunächst rein abstrakt wirkender Farbfelder Bruchstücke von Schriftzügen und von gegenständlichen Bildern zu erkennen.

 

Ihre Gruppe wurde später durch den Italiener Mimmo Rotella vervollständigt. Dieser begann in den 1950er Jahren in Rom mit eigenen Plakatabrissen. Wie Dufrêne verwendete Rotella zunächst bevorzugt die Rückseiten der Plakate. An ihnen klebten oft noch Spuren des Sandsteins von Mauern der ewigen Stadt. Jene durch „Abreißen ihrer Haut“ wieder freizulegen, war Rotellas ursprünglicher Impuls.

 

Kleinstformate fürs Wohnzimmer

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung “Pacific Standard Time” über Kunst in Kalifornien 1950 bis 1980 mit Werken der Op-Art im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Ludwig goes Pop" - facettenreiche Ausstellung mit Abriss-Werken von Robert Rauschenberg im Museum Ludwig, Köln

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “German Pop” zur westdeutschen Pop Art in der Schirn, Frankfurt am Main.

Bald experimentierte Rotella mit neuen Ausdrucksformen, etwa décollage-Kleinstformaten; damit wurde diese Kunstform auch fürs heimische Wohnzimmer tauglich. Am bekanntesten sind Rotellas Filmplakat-Abrisse wie „Marilyn“ (1963-64), die eine große Nähe zur europäischen Pop Art aufweisen.

 

Zu den Affichisten zählte mit Wolf Vostell auch ein Deutscher. Er ging jedoch eigene Wege und war niemals offizielles Mitglied der Gruppe. Um Urheberrechts-Streit mit Hains und Kollegen zu vermeiden, bezeichnete Vostell seine Werke deshalb als dé-coll/age. Er war besonders am Prozess des Abreißens als Akt der Zerstörung interessiert.

 

Pioniere der street art

 

Bei Arbeiten wie „Anti-Process II“ fackelte er den Plakatabriss zusätzlich mit Feuer ab. 1958 führte er unter dem Titel „Das Theater ist auf der Straße“ in Paris das erste Happening überhaupt in Form eines öffentlichen Plakatabrisses durch: Vostell bat Passanten, einzelne Schichten einer großen Plakatwand abzureißen und ihre Gedanken zu sichtbar werdenden Motiven mitzuteilen.

 

Damit zeigt die Ausstellung, dass die heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Affichisten wahre Pioniere der street art sind. Mit ihrer so simpel erscheinenden Technik schufen sie sehr eigene und zudem höchst vielfältige Kunstwerke von seltsamer Schönheit, die wiederzuentdecken sich lohnt.