Christian Labhart

Giovanni Segantini – Magie des Lichts

Giovanni Segantini: Mittag in den Alpen (Detail), 1891, Segantini Museum St. Moritz. Foto: Mindjazz Pictures
(Kinostart: 10.9.) Vom Straßenkind zum Kunst-Alpinisten: Mit faszinierend leuchtenden Hochgebirgs-Gemälden wurde Giovanni Segantini um 1900 zum Star-Impressionisten. Leben und Werk dokumentiert Regisseur Labhart solide, aber aus Fan-Perspektive.

Wirklich populär ist Giovanni Segantini hierzulande nie geworden. Das mag an der Vormachtstellung der französischen Impressionisten liegen, die dem deutschen Publikum beibrachten, wie dieser Stil auszusehen hatte. Oder an der eher dunkel-tonigen Malweise deutscher Impressionisten wie Max Liebermann und Lovis Corinth, die ebenso geschmacksprägend wirkte.

 

Info

 

Giovanni Segantini - Magie des Lichts

 

Regie: Christian Labhart,

82 Min., Schweiz 2015;

mit: Bruno Ganz + Mona Petri als Sprecher

 

Website zum Film

 

Dennoch verblüfft, wie wenige Werke von Segantini in deutschen Museen zu sehen sind. Dabei widmete er sich einem Sujet, dass schon damals mit dem aufkommenden Tourismus zum Sehnsuchtsort geworden war und es bis heute geblieben ist: den Alpen. Wobei er ihren spröden Zauber auf seinen Ölgemälden intensiver zum Leuchten brachte als jeder andere Künstler.

 

Staatenlos durch Halbschwester

 

In der Schweiz und Italien wird er dafür als Gigant der klassischen Moderne verehrt. Obwohl der Sohn eines Schreiners 1858 als Österreicher zur Welt kam: Sein Geburtsort Arco im Trentino gehörte zum Habsburgerreich. Sieben Jahre später starb seine Mutter; sein Vater überließ ihn einer Halbschwester in Mailand. Sie ließ ihrem Mündel die k.u.k.-Staatsangehörigkeit entziehen; Segantini blieb zeit seines Lebens staatenlos.

Offizieller Filmtrailer


 

Erstes Bild erregt Aufsehen

 

Der Junge lief seiner Ziehmutter davon, wäre als Straßenkind fast verhungert und wurde von der Polizei in eine Erziehungsanstalt gesteckt. Dort entdeckte ein Pater sein Zeichentalent. Nach der Entlassung arbeitete er als Gehilfe und besuchte eine Kunstakademie. Schon sein erstes Bild erregte 1879 in einer Ausstellung großes Aufsehen durch strahlendes Seitenlicht, das ein Chorgestühl beschien.

 

Kurz zuvor hatte er mit dem Kunsthändler Grubicy de Dragon Freundschaft geschlossen, der sein treuer Gönner und Förderer wurde. Mit seiner Geliebten Bice zog der Maler 1881 in die Gegend von Brianza nahe Mailand; das Paar bekam vier Kinder. Fünf Jahre darauf ließ sich die Familie in Graubünden in der Schweiz nieder. Dort entdeckte Segantini das karge Leben von Bauern in der Berglandschaft als Motivkreis, der er fortan erfindungsreich variierte.

 

Nur Brief- + Roman-Zitate auf Tonspur

 

Dank Grubicys Aktivitäten wurden die Bilder seines Malerfreundes europaweit bekannt; Segantini hatte Kontakt zu berühmten Kollegen und deutschen Galeristen. Geldsorgen zwangen ihn jedoch 1894 zum Umzug nach Maloja im Engadin. Hier schuf er sein letztes Hauptwerk, das Triptychon „Werden – Sein – Vergehen“. Seine Präsentation auf der Pariser Weltausstellung 1900 erlebte er nicht mehr: Er starb 1899 an einer Bauchfellentzündung.

 

Vom Prekariats-Halbwaisen zum Maler-Propheten eines naturnahen Daseins: Diesem außerordentlichen Lebenslauf will Regisseur Christian Labhart auf ähnlich ungewöhnliche Weise gerecht werden. Er unterlegt seinen Dokumentarfilm lediglich mit Zitaten aus Segantinis Briefen und Schriften sowie – gottlob sparsam dosiert – aus einem „Künstler-Roman“ von 2009.

 

Von Bergeinsamkeit zum Skizirkus

 

Sie dienen als Kommentare zu den wichtigsten, chronologisch angeordneten Stationen seiner Biographie; kombiniert mit detailreichen Aufnahmen von Gemälden, die in der jeweiligen Phase entstanden. Das gerät durchaus dicht und informativ – vor allem dann, wenn Segantinis Bilder mit heutigen Ansichten der dargestellten Landschaften kontrastiert werden: Idyllische Bergeinsamkeit ist zum betriebsamen Passstraßen- und Skizirkus-Getümmel mutiert.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung der Ausstellung "Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus" mit Werken von Giovanni Segantini im Belvedere, Wien

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Alpenglühen: Die Berglandschaft als Sehnsuchtsort” in der Malerei des 19. Jh. im Schlossmuseum Murnau

 

und hier einen Bericht über den Film "Mr. Turner - Meister des Lichts" - Biopic über den Maler William Turner von Mike Leigh

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Wolken von Sils Maria" - Reflexions- Drama von Olivier Assayas mit Juliette Binoche im Engadin + Maloja.

 

Zudem war der Maler, der nie eine Schule besucht hatte, ein eifriger und wortgewandter Schreiber; er tat ausgiebig seine Ansichten über seinen Werdegang, die Kunst und alles Übrige kund – mit eigenwillig anarchistischen Überzeugungen. Diese Zeugnisse bieten dem Regisseur genug Material für eine lückenlose Lebensbeschreibung Segantinis in dessen eigenen Worten.

 

Kein Wort über Divisionismus

 

Die intime Nähe zu seinem Helden wird aber zugleich zur Schwachstelle des Films: Er verhandelt Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur im Vokabular der Epoche mit ihrem zeittypischem Pathos – was zuweilen arg antiquiert anmutet. Segantini entwickelte seine Strichel-Technik mit reinen Farben im Kontext des Divisionismus, der italienischen Spielart des Impressionismus; diese Strömung und ihre wichtigsten Vertreter bleiben ungenannt.

 

Ebenso wenig versucht Labhart, dem Geheimnis der „Magie des Lichts“ in seinen Gemälden analytisch auf die Schliche zu kommen. Stattdessen bebildert er bewundernd Segantinis Eigenaussagen, er habe sich alles allein erarbeitet, sei sich selbst genug und wolle nur die Schönheit der Schöpfung einfangen. Dabei schuf er auch symbolistische Werke mit komplexen Bildmetaphern wie etwa „Die bösen Mütter“ von 1894, die über reine Natur-Anschauung weit hinausgingen.

 

Kunst-Religion heute

 

Mit seiner Selbststilisierung als Original-Genie bediente Segantini die Kunst-Religion seiner Zeit. Zu ihr scheint sich auch Regisseur Labhart zu bekennen. Damit dürfte er die Fan-Gemeinde des Malers beglücken, ihm aber nicht allzu viele neue Anhänger gewinnen.