Jonas Carpignano

Mediterranea

Ayiva (Koudous Seihon) und Abas ( Alassane Sy) in einer Orangen-Plantage. Foto: DCM Film Distribution
(Kinostart: 15.10.) Flüchtlings-Unruhen in Süditalien: 2010 kämpften in der Kleinstadt Rosarno Rassisten gegen Immigranten. Regisseur Carpignano schildert das Drama aus Sicht von Betroffenen und mit ihnen – eine risikofreudige Recherche auf unbekanntem Terrain.

Nur ein paar kurze Meldungen im Vermischten: Mehr war in der deutschen Presse nicht zu lesen, als im Januar 2010 in der süditalienischen Kleinstadt Rosarno junge Immigranten aus Afrika gegen einheimische Rassisten aufbegehrten und dabei Autos in Flammen aufgingen. Doch der US-Filmemacher Jonas Carpignano, Sohn eines Italieners und einer Afro-Amerikanerin, wollte es genauer wissen.

 

Info

 

Mediterranea

 

Regie: Jonas Carpignano,

110 Min., Italien/ Frankreich 2015;

mit: Koudous Seihon, Alassane Sy, Francesco Papasergio

 

Website zum Film

 

Um die Auslöser und Akteure näher kennenzulernen, reiste Carpignano nach Rosarno; der Ort in Kalabrien ist eine Hochburg der regionalen Mafia, ‚Ndrangheta genannt. Über die Vorfälle drehte er die beiden Kurzfilme „A Chijàna“ (2011) und „Ciambra“ (2014), die erfolgreich auf den Festivals in Cannes und Venedig liefen. „Mediterranea“ ist also quasi die Langfassung des Stoffes.

 

Hauptrolle für Protest-Anführer

 

Zur Vorbereitung wohnte der Regisseur mit den illegalen Einwanderern in ihren Slum-Hütten. Dabei freundete er sich mit dem charismatischen Aktivisten Koudous Seihon an, der zu den Anführern der Proteste von 2010 zählte. Er wurde zum Hauptdarsteller dieses Films und spielt sich in der Rolle des Ayiva fast selbst: Einen junger Vater aus Burkina Faso will in Europa arbeiten, um seiner kleinen Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Als Pflücker auf Orangen-Plantagen

 

Sein Freund und Gegenspieler ist der jüngere Abas (Alassane Sy): ein impulsiver Träumer mit großen bis überzogenen Erwartungen an sein Zielland. Am Anfang des Films befinden sich beide auf überfüllten Lastwagen. Sie fahren auf einer beschwerlichen und gefährlichen Route durch die Sahara zur libyschen Küste; dort soll sie ein überladenes Schlauchboot über das Mittelmeer nach Italien bringen.

 

Die Stationen solcher Reisen sind mittlerweile aus den Medien bekannt; ebenso Fährnisse wie Banditenüberfälle und ein Schiffbruch, den beide nur knapp überleben. Auch bei der Ankunft im gelobten Land wird ihre Hoffnung auf ein friedliches Leben enttäuscht. Die Arbeitsbedingungen auf den Orangen-Plantagen, auf denen beide als Pflücker malochen, sind ebenso unmenschlich wie ihre Unterkünfte.

 

Ameisen-Perspektive der Handkamera

 

Zudem machen junge kalabrische Rassisten mit Hetze und Übergriffen den Afrikanern das Leben schwer. Ayiva ist bereit, solche Erniedrigungen in Erwartung einer besseren Zukunft einzustecken; er knüpft sogar freundschaftliche Bande mit dem dubiosen Boss der Plantage. Dagegen verkümmert Abas, der in den Tag hinein lebt, zusehends unter den elenden Verhältnissen.

 

Hintergrund

 

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Atlantic." über eine Windsurfer-Flucht aus Afrika nach Europa von Jan-Willem van Ewijk

 

und hier einen Bericht über den Film "Heute bin ich Samba" - beschwingte Tragikomödie über illegale Einwanderer in Frankreich von Olivier Nakache und Eric Toledano mit Omar Sy + Charlotte Gainsbourg

 

und hier einen Beitrag über den Film “Die Farbe des Ozeans” – intensives Flüchtlings-Drama auf Gran Canaria von Maggie Peren.

 

Glücklicherweise verzichtet Carpignano darauf, ein sentimentales Flüchtlingsdrama mit den üblichen Spannungsbögen und Konflikten zu konstruieren. “Mediterranea“ ist ein angemessen rauer Film, der auch zentrale Ereignisse oft nur anreißt und elliptisch mit Schnappschüssen erzählt. Dabei gibt eine erratische, nah an Gesichtern oder Objekten haftende Handkamera die Orientierungslosigkeit und Gefährdung der Flüchtlinge fast mimetisch wider.

 

Schiffbruch als Bild- und Klang-collage

 

Der Schiffbruch mit vielen ertrinkenden Opfern und einer Rettung im letzten Augenblick wird so zur fast experimentellen Bild- und Klang-collage. Nur selten darf sich der Zuschauer bei einer Totale erholen; wenn etwa die Emigranten wie eine Wüsten-Karawane als verstreute, bunte Punkte eine Sanddüne hinaufstapfen.

 

Regisseur Carpignano hat vor Ort in Kalabrien gedreht. Bis auf Alassane Sy in der Rolle des Abas haben alle (Laien-)Darsteller die Unruhen von Rosarno selbst miterlebt; sie kennen das Dasein genau, von dem hier erzählt wird. Auch einige wunderbare Nebenfiguren überzeugen, wie die aufsässige Tochter des Plantagenbesitzers oder ein halbwüchsiger Hehler von höchstens zwölf Jahren, der mit Kippe und kaltschnäuzigen Sprüchen einen Möchtegern-Kleinmafioso perfekt verkörpert.

 

Risiko-Recherche im Unbekannten

 

Natürlich passt „Mediterranea“ in die derzeitige Nachrichtenlage. Bei aller Aktualität ist der Film aber keiner der üblichen, routiniert nach Schema F gestrickten Problem-Filme, sondern eine ästhetisch risikofreudige und höchst persönliche Recherche auf nahezu unbekanntem Terrain. Was mancher an ausgefeilter Dramaturgie vermissen mag, wird durch die sinnliche Präsenz der Akteure und Szenen mehr als ausgeglichen.