Peter Greenaway

In Berlin ging Eisenstein sofort in Sex-Shops

Peter Greenaway im Gespräch. Foto: ohe
Das schwule Coming Out von Sergej Eisenstein in Mexiko ist keine zweitrangige Episode, sondern zentral zum Verständnis seiner Person, versichert Peter Greenaway: Deshalb rücke er es in den Mittelpunkt seines Biopics "Eisenstein in Guanajuato".

Mr. Greenaway, welchen Film haben Sie zuletzt angeschaut?

 

Der letzte Film, den ich komplett von Anfang bis Ende im Kino gesehen habe, war vermutlich „Blue Velvet“ (1986) von David Lynch. Was ich mache, unterscheidet sich sehr vom normalen Kino; es klebt so ermüdend an Narrativen. Es interessiert sich so wenig für visuelle Formen und ist so von Erzählungen besessen, das ich das Interesse daran weitgehend verloren habe.

 

Als Filmemacher muss ich aber auf dem Laufenden bleiben; also sehe ich mir vieles in Ausschnitten an – auf diversen elektronischen Endgeräten. Für mich ist wichtig, neue Schauspieler kennen zu lernen, obwohl ich mir gern ein Kino ohne Schauspieler vorstelle; das wäre aber schwierig umzusetzen.

 

Sagte ich „Eisenstein“, fragte man „Einstein?“

 

Was fasziniert Sie am sowjetischen Regisseur Sergej Eisenstein, der mit seiner einzigartigen Montage-Technik das Kino revolutioniert hat?

 

Info

 

Eisenstein in Guanajuato

 

Regie: Peter Greenaway,

105 Min., Niederlande/Mexiko 2015;

mit: Elmer Bäck, Luis Alberti, Maya Zapata

 

Website zum Film

 

Ich habe Eisenstein für mich entdeckt, als ich als 17-jähriger Kunststudent in London seinen Film „Streik“ von 1925 sah; es ist meiner Meinung nach das erste Meisterwerk der Kinogeschichte. Wenn ich damals von „Eisenstein“ sprach, fragten mich die Leute: „Meinen Sie Einstein?“. Ich fürchte, diese Ignoranz dauert bis heute an.

 

Wie vertraut sind wir mit großen Meisterwerken visueller Darstellung? Ich glaube, wir sind viel eher mit Meisterwerken der Weltliteratur vertraut. Wenn ein Engländer den Mund aufmacht, zitiert er automatisch Shakespeare – meist ohne es zu wissen. Die Wörter sind nicht jungfräulich, wenn wir sie in den Mund nehmen; Millionen Menschen haben Sie zuvor benutzt. Das gilt vermutlich ebenso für das Kino, obwohl es den Leuten nicht bewusst ist, und sicherlich für die Malerei.

 

Malerei ist immer gegenwärtig

 

Gemälde sind stets Zitate von Zitaten von Zitaten. Picasso hat Velazquez umgearbeitet, Henry Moore Michelangelo und Andy Warhol Leonardo da Vinci – es ist ein einziges Kontinuum. Manche Leute fragen mich, warum ich mich so viel mit Malern des 17. Jahrhunderts beschäftige. Aber wir betrachten Malerei immer in der Gegenwart; ein Bild wird nicht irrelevant, nur weil es 1709 gemalt wurde.

Auszüge des Interviews auf Englisch mit Peter Greenaway


 

Eisensteins Dreharbeiten sind kaum zu sehen

 

Sprechen wir über die Handlung: 1930 verlässt Eisenstein die stalinistische Sowjetunion und kommt ins lebens- und farbenfrohe Mexiko – das lässt ihn quasi ausflippen. Er dreht wie ein Besessener etwa 50 Stunden Rohmaterial, wird aber seinen Film nie fertigstellen können.

 

Sie greifen diese Episode auf, aber vom Zweck der Reise – den Dreharbeiten zu „Que viva Méxiko!“ – sieht man fast nichts. Die längste Zeit bleibt der Film in Eisensteins Hotel und beleuchtet sein coming out. Warum vernachlässigen sie die Bedeutung seiner Reise für die Filmgeschichte?

 

Eisenstein liebte es, fotografiert zu werden

 

Ursprünglich wollte ich über die Frage, warum Eisenstein in Mexiko gescheitert ist, einen Dokumentarfilm drehen. Doch solche Filme betrachten die Dinge von außen; ich wollte dagegen die Innenperspektive einnehmen. Als Eisenstein-Fan habe ich viel über ihn gelesen und bin an Orte gereist, an denen er gewesen ist.

 

Also fing ich an, Dialoge zu schreiben, die er mit Gesprächspartnern in Mexiko geführt haben könnte. Ich begann also mit dem Konzept für einen Dokumentar- und endete bei einem Spielfilm. Doch die Anfänge sind noch sichtbar; etwa in Original-Filmschnipseln oder Dutzenden eingeblendeter Fotografien. Eisenstein war offenbar ziemlich eitel; er liebte es, fotografiert zu werden.

 

Coming Out in Briefen detailliert beschrieben

 

Ab einem gewissen Punkt wird alles hypothetisch. Auch ich kenne nicht die Wahrheit über Eisensteins Beziehung zu seinem Begleiter Cañedo, aber es gibt etliche Hinweise – ich habe mir das nicht ausgedacht. Im Film telefoniert Eisenstein mehrfach mit Pera Atasheva in Moskau; sie war seine Sekretärin und spätere Ehefrau. Tatsächlich korrespondierten sie per Brief, als Eisenstein in Mexiko war, aber mit erschien kinogerechter, das als Telefonate zu inszenieren.

 

In einem Moskauer Archiv liegen seine Original-Briefe, in denen er seine Beziehung zu Cañedo in allen Details beschreibt. Obwohl Herr Putin behauptet, all das sei falsch, kann man anhand dieser Dokumente zeigen, dass die Umstände dieses Dramas höchstwahrscheinlich so abliefen wie im Film beschrieben.

 

Berliner Erotica gab es in Moskau nicht

 

Warum ist aus Ihrer Sicht das coming out von Eisenstein in Mexiko so interessant?

 

Wenn man in ein fremdes Land reist, wird man ein anderer Mensch. Weder Verwandte noch Stalin sitzen einem im Nacken, so dass man die übliche Selbstzensur ablegen kann. Außerdem haben seine Aufnahmen in Mexiko mit seinen ersten drei Filmen wenig gemein.

 

Eisenstein hat sich immer sehr für sexuelle Themen und Vorlieben interessiert. Auf dem Weg nach Amerika hielt er sich einige Zeit in Berlin auf; hier machte er sofort einen Rundgang durch Sex-Shops, um Bücher zu kaufen, die er in Russland niemals hätte finden können. Zudem hätte er wahnsinnig gerne Freud kennen gelernt, was ihm aber nicht gelang.

 

Also: Als er seine Heimat verließ, öffneten sich für ihn Türen und Fenster, die in der Sowjetunion stets geschlossen geblieben wären. Ich denke, unsere Sexualität ist der Schlüssel zu vielen unserer persönlichen Aktivitäten; deshalb handelt der Film von Eros und Thanatos.