Halle/Saale

Moderne in der Werkstatt: 100 Jahre Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle

Gustav Weidanz: Portalfiguren vom Haupteingang des Solbads Wittekind (Details), 1924, glasierte Keramik. Foto: ohe
Hübsch herausgeputzte Rumpelkammer: Die Kunsthochschule in Halle war vor 100 Jahren der erste Mit- und Gegenspieler des Bauhauses. Das lässt die Jubiläumsschau in der Moritzburg nicht ahnen – sie gefällt sich als geschichtsloses Sammelsurium.

Beharrlicher als das Bauhaus: Während die berühmte Gründung von Walter Gropius nach zwei Ortswechseln 1933 für immer geschlossen wurde, besteht die renommierte Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle bis heute. Sie hat fünf Staatsformen überdauert, darunter zwei totalitäre Regimes, wurde mehrfach umbenannt und blickt inzwischen auf eine 100-jährige Tradition zurück.

 

Info

 

Moderne in der Werkstatt: 100 Jahre Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle

 

16.11.2015 - 14.02.2016

täglich außer mittwochs

10 bis 18 Uhr

im Kunstmuseum Moritzburg, Friedemann-Bach-Platz 5, Halle/ Saale

 

Katalog 24,50 €

 

Weitere Informationen

 

Allerdings ist die Kunsthochschule in Westdeutschland wenig bekannt. Das runde Jubiläum wäre eine ideale Gelegenheit, ihre wechselhafte Geschichte aufzuarbeiten, sollte man meinen: So könnte Giebichenstein aus dem langen Schatten des legendären Bauhauses heraustreten. Diese Chance wird jedoch vertan: Die Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg gleicht einer selbstgenügsamen Nabelschau. Von überregionaler Ausstrahlung, gar Internationalität, keine Spur.

 

Vier Jahre vor Bauhaus-Beginn

 

Anders als früher: 1915 wurde der Architekt Paul Thiersch Direktor der damaligen Handwerkerschule von Halle. Er reformierte sie nach den Grundsätzen des Deutschen Werkbundes, der für ästhetische Gestaltung industriell gefertigter Produkte eintrat. Thiersch richtete Lehrklassen für alle Kunst- und Kunstgewerbe-Sparten ein: vier Jahre, bevor in Weimar das Bauhaus entstand.

 

Design-Aufgaben für die Planwirtschaft

 

In den 1920er Jahren ähnelten sich Prinzipien und Profile beider Hochschulen sehr – kein Wunder: Der Austausch von Ideen und Personal war rege. Als das Bauhaus 1925 von Weimar nach Dessau umzog, wechselten viele Bauhäusler zur Burg; etwa der bekannte Bildhauer Gerhard Marcks. Er übernahm 1928 die Leitung der Einrichtung.

 

Während die Nazis 1933 das mittlerweile in Berlin angesiedelte Bauhaus zur Selbstauflösung zwangen, wurde Giebichenstein gleichgeschaltet und als Handwerkerschule weitergeführt. Das änderte sich nach 1945: Die DDR nahm die Burg in Dienst und baute sie seit 1958 zur „Hochschule für industrielle Formgestaltung“ aus – also für Design-Aufgaben in der Planwirtschaft. 1975 wurde Bildende Kunst als Sparte wieder aufgewertet und später um neue Fächer wie Medienkunst erweitert. Seit der Wiedervereinigung strebt die Hochschule aus der Provinzial- in die Globalisierung.

 

Kommentarlose Heizkörper-Abdeckung

 

Über dieses Auf und Ab voller Brüche erfährt man in der Ausstellung nichts. Sie suggeriert Kontinuität mit einem doppelseitigen „Zeitstrahl“: Wichtiger als politische Systemwechsel erscheinen Großaufträge und Einzelwerkstätten. Die NS-Zeit ist nur mit drei Exponaten vertreten, darunter einer Prunkvase von Hubert Griemert für die Olympischen Spiele 1936; darüber verliert das Begleitheft zur Schau kein Wort.

 

Stattdessen hängt und liegt ein Potpourri von Musterstücken aus: hier Zierkeramik aus den 1920er Jahren, dort eine „Heizkörperabdeckung“ von 1924 aus Messing – wozu mag sie gedient haben? Hier eine Handvoll Mode-Zeichnungen und Textilstoffe, dort ein paar Möbel und Leuchten. Alles völlig kommentarlos; auch das Begleitheft listet nur Gestalter, Hersteller und Entstehungsjahre auf.

 

Wessen Freundschaft mit wem?

 

Dass solche schlichten und zeitlos schönen Entwürfe für Klinken, Lampen, Stühle und Geschirr nicht vom Himmel fielen, sondern Ergebnis intensiver theoretischer Überlegungen waren – auch in Auseinandersetzung mit dem Bauhaus und anderen Keimzellen der klassischen Moderne: All das bleibt außen vor. In diesem Stil geht es bei der Nachkriegszeit weiter; zur Geschichtsvergessenheit kommt nun noch Geschichtsfälschung dazu.

 

Da hängt, prominent platziert, ein Gobelin von 1955 an der Wand; entworfen von Willi Sitte, einem Hofmaler des SED-Politbüros. Sein „Freundschaftsteppich“ zeigt irgendwelche Hände, die einander schütteln, zwei Deutschland-Fahnen ohne DDR-Wappen, einen roten Stern und stählerne Kugelgestänge wie vom Atomium in Brüssel. Ein ikonographisches Mysterium: Wessen Freundschaft mit wem wird hier beschworen?

 

Mit Plaste den DDR-Alltag gestalten

 

Daneben finden sich zwei kleine Gobelins aus demselben Jahr; sie zeigen „Engel“ und „Madonna“. Wieso wurden in Giebichenstein christliche Motive gewebt – noch vor der Entstalinisierung auf dem XX. KPdSU-Parteitag 1956? Derartige Widersprüche scheinen die Kuratoren nicht zu kümmern. Ebenso wenig historische Gerechtigkeit für die Akteure: Linientreue Burg-Rektoren wie Walter Funkat und Erwin Andrä werden ausführlich berücksichtigt; hingegen kaum oder gar nicht die geistig unabhängigeren Dozenten wie Lothar Zitzmann, Lothar Sell oder Hannes H. Wagner, allesamt namhafte Maler und Grafiker.

 

Denn die wichtigste Aufgabe der Hochschule war die Gestaltung des DDR-Alltags; er wird mit Plaste-Erzeugnissen aus dem VEB Presswerk Spremberg verschwenderisch ausgebreitet. Ohne das traurige Ende zu verschweigen: Plötzlich tauchen schräge Metallobjekte und Torsi aus schrundigen Scherben auf. Arte povera zwischen Elbe und Oder? Auch dazu schweigt die Ausstellung.

 

Puppen, Flughafen-Restaurant, BMW-Werk

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Made in Germany – Politik mit Dingen" über die "Deutsche Werkbund-Ausstellung 1914" im Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin

 

und hier eine Besprechung der "Wiedereröffnung des Kunstgewerbemuseums" am Kulturforum in Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Jugendstil bis Gegenwart - Design im 20. Jahrhundert" - neue Dauerausstellung im GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig.

 

Lieber überrascht sie mit einem Separée voller Puppen, die der Bildhauer Gustav Weidanz in den 1920er Jahren anfertigte; ihre Köpfe zeigen deutlich kubistische und expressionistische Einflüsse. Damit führten Burg-Lehrer und -Schüler Stücke von Shakespeare und Molière auf, wovon nur alte Fotos zeugen. Auf den Einfall einer Re-Inszenierung, die sich als Film vorführen ließe, ist offenbar niemand gekommen.

 

Enormer multimedialer Aufwand wird dagegen für ein rundum verglastes Restaurant getrieben, das Burg-Architekt Hans Wittwer 1930/1 für den Flughafen Halle/Leipzig errichtete. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört; daran erinnern diverse Modelle, Fotos und Hängebanner. Daneben wird stolz der jüngste Großauftrag präsentiert: Farbkonzept und Arbeitskleidung für das heutige BMW-Werk in Leipzig. Eine höhlenartige Koje mit preisgekrönten Arbeiten des „SYN Award“ für Nachwuchs-Designer gibt es auch noch – flankiert von einer faden Foto-Galerie.

 

Bauhaus behält Nase vorn

 

Dieses Sammelsurium lässt den Besucher ratlos zurück: Ist es Dilettantismus, oder hat es Methode? Dürfen hier alle möglichen Granden ihre Steckenpferde reiten, oder waren der oder die Kuratoren heillos überfordert? Jedenfalls werden Geschichte und Identität der Kunsthochschule nicht ansatzweise erkennbar; ihre 100-jährige Tradition erscheint als hübsch herausgeputzte Rumpelkammer. So wird Burg Giebichenstein auch in den nächsten 100 Jahren dem mythischen Bauhaus kaum den Rang ablaufen können.