Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit gab es schon vor 100 Jahren. Doch zugleich kämpften in vielen Ländern Menschen für ihre politischen Mitspracherechte durch Stimmabgabe; das wurde Frauen – und meist auch Männern ohne Vermögen – fast überall verwehrt. Besonders militant verliefen die Auseinandersetzungen um das Frauenwahlrecht in Großbritannien.
Info
Suffragette –
Taten statt Worte
Regie: Sarah Gavron,
106 Min., Großbritannien 2015;
mit: Carey Mulligan, Helena Bonham Carter, Meryl Streep
Ausstattung wirkt gegenwärtig
Diese Episode der kämpferischen Frauenbewegung war bislang im Kino unterbelichtet; das ändert nun der Film von Regisseurin Sarah Gavron. Sie inszeniert ihn in einem – dem politischen Thema angemessenen – journalistischen look; er lässt die gediegene Ausstattung durch lange Brennweiten und entsättigte Farben weniger historisierend als gegenwärtig aussehen.
Offizieller Filmtrailer
Großwäscherei als Industrie-Hölle
Dazu passen die sorgfältig ausgewählten Darsteller wie Helena Bonham Carter oder die großartige Anne-Marie Duff; ihre verhärmten Gesichter verkörpern glaubwürdig damaliges Frauenleben mit seinen Härten. Im Mittelpunkt steht die überragende Carey Mulligan: Sie spielt das anfangs eher farblose Arbeitermädchen Maud Watts, das eher versehentlich als voller Enthusiasmus in die Mühlen der Geschichte gerät.
Seit ihrer Kindheit arbeitet Maud unter entwürdigenden Bedingungen in einer Londonder Großwäscherei; dort muss sie gesundheitsgefährdende Dämpfe ebenso ertragen wie sexuelle Übergriffe des Chefs. Der Film beginnt in London 1912 mit einer beeindruckenden, von stampfenden Maschinenrädern begleiteten Kamerafahrt in diese industrielle Hölle.
Von der Demo ins Parlament
Dann umreißen einige programmatische Zitate von WSPU-Gründerin Emmeline Pankhurst die Sach- und Problemlage. Bald ist Maud mitten im frauenbewegten Geschehen: Bei einem Botengang gerät sie zufällig in eine Demonstration, die von der Polizei zusammengeprügelt wird. Maud schließt sich den Kämpferinnen an und findet sich ähnlich unverhofft bei einer Anhörung im Parlament wieder: In Gegenwart von Premierminister Lloyd George erzählt sie von ihrem Arbeitsalltag.
Auf einer weiteren Handlungs-Ebene schildert der Film das Familienleben von Maud; sie haust mit ihrem Ehemann Sonny (Ben Wishaw) und Kind in engen und düsteren Verhältnissen. Wenig überraschend reagiert ihr Gatte auf Mauds emanzipatorische Bestrebungen mit patriarchalem Unwillen.
Mehr Familienstreit als politischer Kampf
Irritierenderweise rückt aber dieser Erzählstrang mitsamt melodramatischen Verwicklungen immer mehr in den Vordergrund: Sonny wirft sie aus der Wohnung, nimmt ihr den Sohn weg und gibt ihn zur Adoption frei. Damit werden die politischen Auseinandersetzungen zur Staffage, um davor die üblichen dramatischen Standardsituationen auszubreiten. Dazu passt, dass Meryl Streep als WSPU-Anführerin Emmeline Pankhurst mit einem – allerdings prägnanten – Kurzauftritt abgespeist wird.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Am grünen Rand der Welt" - viktorianisches Liebesdrama nach Thomas Hardys Romanklassiker mit Carey Mulligan von Thomas Vinterberg
und hier einen Bericht über den Film „Albert Nobbs“ - sozialkritisches Drama über das Frauenbild der viktorianischen Ära von Rodrigo García mit Glenn Close
und hier einen Beitrag über den Film „In guten Händen – Hysteria“ von Tanya Wexler über die Erfindung des Vibrators im England der 1880er Jahre.
Special interest one issue movie
Zuvor wird die politische Agenda der Suffragetten auf ein paar markante frauenrechtlerische statements und Diskussionen um die Gewaltfrage reduziert. Um die Zuschauer emotional anzusprechen, betont Regisseurin Gavron neben Mauds häuslichen Konflikten auch die soziale Frage stark; dagegen kamen die historischen Suffragetten eher aus dem Bürgertum.
Ebenso breit ausgestellt wird die staatliche Repression der Bewegung: mit damals soeben erfundenden Überwachungs-Fotos und Zwangsernährung im Gefängnis. Der Maud nachstellende Polizei-Inspektor (Brendan Gleeson) sympathisiert zugleich mit ihr; als einziger Staats-Vertreter, der etwas differenzierter gezeichnet ist. So wird “Suffragette” zum one issue movie fürs special interest-Publikum; Regisseurin Gavron versucht nicht einmal, jenseits der schlichten Botschaft eine filmische Form für komplexe Realitäten zu finden.