Viggo Mortensen

Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück

Bens und seine Kinder verbrennen die Leiche ihrer Mutter am See. Foto: Universum Film
(Kinostart: 18.8.) Robinson-Familie an der Pazifikküste: Ein Paar zieht seine Kinder isoliert im Wald groß – als die Mutter stirbt, müssen sie in die Zivilisation zurück. Gelungene Tragikomödie über das richtige Leben im falschen von Regisseur Matt Ross.

Die Kamera fliegt über dichte Wälder und landet in einer Lichtung. Zwischen Bäumen und Büschen schaut sie sich um: Vögel singen, Äste knacken, Baumkronen brechen das Sonnenlicht, und ein Hirsch schleicht sich vorsichtig heran. Wenn ein Film so beginnt, grüßt offensichtlich das Klischee der vermeintlichen Ruhe vor dem Sturm.

 

Info

 

Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück

 

Regie: Matt Ross,

120 Min., USA 2016;

mit: Viggo Mortensen, Steve Zahn, Frank Langella

 

Website zum Film

 

In „Captain Fantastic“, bei dem US-Schauspieler Matt Ross zum zweiten Mal Regie führt, kommt es anders: Der Sturm ist eher eine Windböe. Neben dem Hirsch tauchen plötzlich zwei Augen in einem schwarz bemalten Gesicht auf; ein Mann springt aus seinem Versteck und schneidet dem Tier die Kehle durch. Danach scharen sich fünf Kinder und ihr Vater Ben (Viggo Mortensen) um die Beute. Er schmiert dem Jäger, seinem ältesten Sohn Bodevan (George Mackay), Hirschblut ins Gesicht – und sagt: „Heute stirbt der Junge und macht Platz für einen Mann.“

 

Besser in freier Wildbahn töten

 

Diese Eingangs-Szene trägt die Essenz des Films in sich: Es geht um Widersprüche zwischen Natur, Mensch und Zivilisation. Die schnelle Tötung von Wild in freier Natur ist nicht annähernd so grausam wie das Umbringen eines lebenslang in Ställe eingepferchten Tiers mit einem Bolzenschussgerät; ungefähr so würde jedenfalls Familien-Häuptling Ben Cash argumentieren.

Offizieller Filmtrailer


 

Lagerfeuer-Romantik mit Marx + Trotzki

 

Er zog mit seiner Frau Leslie (Trin Miller) in die weiten Wälder im Nordwesten der USA. Dort leben sie seit langem mit ihren sechs Kindern in einem großen Zelt, umgeben von selbstgebauten Möbeln, einem Baumhaus, einer Küche und gefüllten Bücherregalen. Die Familie beherrscht nicht nur das schusswaffenfreie Jagen, sondern ist auch sehr belesen: Die Akademiker-Eltern unterrichten ihre Kinder selbst.

 

Am Lagerfeuer diskutieren die Familie, auch die Jüngsten, über Trotzkis Theorien und Dostojewskis Romane; Marx‘ Schriften werden aus dem Stehgreif zitiert. Bei aller Freiheit eines Lebens zwischen Selbstversorgung und Zivilisationsferne ist der Alltag jedoch streng durchorganisiert. Morgens ruft Ben zum Frühsport, danach ist Unterricht; gefolgt von Nahkampftraining, politischen Diskussionen sowie Jagd- und Kletterausflügen.

 

Aus Robinsonade wird road movie

 

Die isolierte Idylle bröckelt, als eine andere Wirklichkeit hereinbricht. Leslie ließ sich wegen schwerer Depressionen in eine Klinik einweisen; Monate später erfährt Ben von ihrer Schwester Harper (Kathryn Hahn), dass sie Selbstmord begangen hat. Dafür macht ihr Vater Jack (Frank Langella) Ben verantwortlich: Er droht ihm, ihn verhaften zu lassen, falls dieser bei Leslies Begräbnis erscheinen sollte.

 

Als Ben seinen weinenden Kindern erzählt, sie dürften nicht zur Beerdigung ihrer Mutter, begehren sie auf. Er lässt sich umstimmen, alle fahren mit einem alten Schulbus los – und der Film verwandelt sich von einer survival-Robinsonade in ein road movie mit dem Arbeitstitel: sieben Neo-Anarchisten auf dem Weg zur Spießer-Beerdigung.

 

Cola ist giftiges Wasser

 

Der clash of civilisations ist vorhersehbar, aber mit solcher Empathie gefilmt, dass sich der Zuschauer selbst wie ein Aussteiger fühlt: Man beäugt die übrige Welt aus trostlosen Konsumtempeln und entfremdeten Bewohnern genauso skeptisch wie die Kinder, die derlei nur aus Büchern kennen. Da spricht der verschüchterte Bo mit einem Mädchen seines Alters über die SciFi-Fernsehserie „Star Trek“, die er nie gesehen hat – und redet sich um Kopf und Kragen. Oder Ben antwortet auf die Frage seiner Tochter Kielyr, was Cola sei, nur: „Giftiges Wasser“.

 

Tragikomisch wird es hingegen, wenn Leslies Schwester Harper Ben rät, seine Kinder auf die Schule zu schicken. Ben ruft seine achtjährige Tochter herbei, fragt sie nach den von der US-Verfassung verbrieften Grundrechten – und sie betet die Paragraphen im Wortlaut wie ein Roboter herunter.

 

Auf den Spuren von Emerson + Thoreau

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Den Menschen so fern" – packender existentialistischer Sahara-Western nach einer Erzählung von Albert Camus mit Viggo Mortensen

 

und hier einen Rezension des Films "Die Maisinsel" – idyllische Aussteiger-Robinsonade in Georgien von George Ovashvili

 

und hier einen Bericht über den Film "Night Moves" - Ökoterrorismus-Thriller unter US-Aussteigern in Oregon von Kelly Reichardt mit Jesse Eisenberg

 

und hier einen Beitrag über den Film „Das grüne Wunder – Unser Wald“  – beeindruckend gefilmte Doku über den deutschen Wald von Jan Haft.

 

Die in der Wildnis aufgewachsenen Kinder sind zwar schlauer und gesünder als ihre Altersgenossen, doch sie haben normales Leben mit Schulfreunden, Eiscreme und snapchat auf dem smartphone nie kennen gelernt. Ihre Eltern mögen radikale Selbstbestimmung verwirklicht haben, aber eben auch ein Regime der Ignoranz und Entbehrungen.

 

Solche Widersprüche haben in den USA eine lange Tradition. Rousseaus Maxime „Zurück zur Natur!“ fiel in dieser Nation aus Einwanderern und Pionieren auf fruchtbaren Boden: Ralph Waldo Emerson formulierte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Lehre vom Dasein im Einklang mit der Natur. Henry David Thoreau wohnte jahrelang allein in einer Blockhütte; sein Erfahrungsbericht „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ von 1854 wurde zur Bibel aller US-Aussteiger.

 

Utopie vs. Wirklichkeit

 

Auch Regisseur Matt Ross kennt diese Lebensweise aus eigener Erfahrung: Als Kind wohnte er mit seiner Mutter in Späthippie-Kommunen an der Pazifikküste. Mit „Captain Fantastic“ gelingt ihm eine zeitgemäße Meditation über alternative Lebensentwürfe und Erziehung in einer durchkapitalisierten Welt, aber auch über den Konflikt zwischen Utopie und Wirklichkeit.

 

Dazu tragen auch beeindruckende Naturaufnahmen und genial spielende Kinderdarsteller bei. Leider verliert der Film zum Schluss den Mut, den Widersprüchen standzuhalten; er begnügt sich – wie in der Realpolitik – mit einem Kompromiss.