Hamburg

Manet – Sehen: Der Blick der Moderne

Édouard Manet (1832–1883): Das Frühstück im Atelier, 1868, © bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Fotoquelle: Hamburger Kunsthalle
Angeschaute Bilder blicken zurück: Die Kunsthalle führt vor, wie Édouard Manet um 1860 zum Ausstellungs-Maler par excellence wurde – indem er die Betrachter in seine Gemälde mit einbezog. Eine klug komponierte Werkschau des Skandal-Künstlers mit Aha-Effekt.

Sehen und gesehen werden

 

Im Gegenteil: Jedes Element erlaubt verschiedene Interpretationen; erst die Entscheidung des Betrachters für eine von ihnen verleiht ihm Eindeutigkeit. Diese fundamentale Offenheit macht Manets Modernität aus: Er legt seine Gemälde als klare, aber unbestimmte Konstruktionen an, die durch den Rezipienten mit Sinn aufgeladen werden. Ein Bild ist nur eine mit Farbe bedeckte Fläche, der allein der Akt des Anschauens Bedeutung verleiht: Was heute selbstverständlich klingt, galt vor 150 Jahren als revolutionär.

 

Für diese Deutung spricht, dass die Personen auffallend häufig aus dem Bild herausblicken. Das gab es natürlich schon zuvor, aber bei Manet hat es Methode: Ob Kinder oder Jünglinge, Künstler oder Publizisten, seine Lieblings-Modelle Victorine Meurent und Berthe Morisot, oder gar die Prostituierten „Olympia“ und „Nana“ (1877): Sie alle sehen dem Betrachter direkt in die Augen. Er ist kein Zaungast oder Voyeur mehr, der Zeuge einer Szene wird, die sich auch ohne ihn abspielen könnte. Das Porträt nimmt Blickkontakt auf, als verlange es seine Mitwirkung.

 

Bildinterne Präzisions-Hierarchie

 

Wobei ihm der Maler es nicht gerade leicht macht: Wie kein anderer Künstler seiner Zeit variiert Manet seine Malweise innerhalb eines Bildes. Manche Details stellt er äußerst genau dar, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Andere Zonen spachtelt er nachlässig zu; sie sind ihm scheinbar nicht wichtig. Bildnisse hinterlegt er oft, wie seine Vorbilder Velázquez und Goya, mit diffusem Dunkel. Bewegungen gibt er gern unscharf wider – ähnlich auf Fotografien der Epoche mit damals langen Belichtungszeiten.

 

So entsteht bei Gemälden von Gruppen, etwa dem „Maskenball in der Oper“ (1873), gleichsam eine bildinterne Hierarchie: Prominente Gesichter sind präzise ausgearbeitet, andere im Hintergrund nur flüchtig hingetuscht. Dabei scheut sich Manet nicht, akademische Regeln zu verletzen. In „Die Krocketpartie“ (1873) ist der Mann am rechten Rand viel zu stark perspektivisch verkürzt, und die Bildmitte füllt eine unscheinbare Gießkanne: Es geht dem Maler um das impressionistisch wuchernde Grün, nicht um die Figuren.

 

40 Sitzungen für ein Porträt

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "ImEx – Impressionismus – Expressionismus. Kunstwende" mit Werken von Manet in der Alten Nationalgalerie, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Monet und die Geburt des Impressionismus" mit Arbeiten von Édouard Manet im Städel Museum, Frankfurt/ Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Constable, Delacroix, Friedrich, Goya: Die Erschütterung der Sinne" mit Gemälden von Manet im Albertinum, Dresden

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung „Camille Corot: Natur und Traum“ über den bedeutendsten französischen Landschaftsmaler des 19. Jh. in der Staatlichen Kunsthalle, Karlsruhe.

 

Viele seiner Gemälde wirken in Komposition und Kolorit unausgewogen – und dadurch voller Spannung, die ihren Reiz ausmacht. Für diesen Effekt trieb Manet großen Aufwand: Bei Porträts setzte er bis zu 40 Mal an, nur um am Ende der Sitzung die Leinwand wieder abzuwaschen.

 

Gelang ihm, seine Eindrücke auf gewünschte Weise festzuhalten, sind die Ergebnisse verblüffend: Beim ersten Bildnis (1862) von Victorine Meurent als Handwerkstochter modellierte er ihr Antlitz mit nur zwei Farbtönen, die dick aufgetragener Salbe ähneln. Das verschleierte Konterfei von Berthe Morisot (1872), die selbst als impressionistische Künstlerin reüssierte, ist so fahrig gemalt, als sei sie ein Schreckgespenst.

 

Kontrast durch Konventionelles

 

Das einzigartige Vorgehen von Manet kontrastiert die Kunsthalle mit Gegenbeispielen seiner Zeitgenossen: etwa gefällig konventionellen Gemälden von Morisot oder den Starkünstlern Jean-Léon Gérôme und Ernest Meissonier. So wird die drangvolle Enge und optische Konkurrenz bei damaligen salon-Ausstellungen anschaulich vorgeführt; im Vergleich dazu sind heutige Museen beinahe leergefegt.

 

Entbehrlich wäre dagegen der Mitmach-Raum, in dem man Augen fotografieren und an die Wand hängen darf; verspielte Kunstpädagogik lenkt bei diesem Thema vom Wesentlichen ab. Völlig deplatziert wirkt zudem eine raumfüllende Riesen-Installation aus Blei von Richard Serra: Ob sich Direktor Gaßner mit diesem bizarren Akzent zum Abschied einen Jux erlaubt?

 

Man sieht nur, was man weiß

 

Sehr nützlich ist jedoch eine Lese-Ecke: Trotz kundiger Kommentierung aller Exponate in den Ausstellungs-Sälen erschließt sich das subtile Wechselspiel der Blickrichtungen und -beziehungen in Manets Werk erst durch Lektüre der Katalog-Aufsätze. Sie argumentieren etwas kleinteilig, aber das ist bei diesen komplexen Bildern wohl unvermeidlich. Man sieht auf ihnen vor allem, was man weiß – weil man es nachgelesen hat.