Eiichi Yamamoto

Belladonna of Sadness

Geläutert durch Teufelspakt und Tollkirsche: Jeanne in "Belladonna of Sadness". Foto: Rapid Eye Movies
(Kinostart: 1.9.) Ein Hexen-Märchen als psychedelische Farbexplosion: 1973 entstand in Japan ein formvollendetes Gesamtkunstwerk der Pop-Ära. Der einmalige Animationsfilm kommt endlich auf die Leinwand – mit der wohl wildesten Orgie der Kino-Geschichte.

Nur wenige Kunstwerke sind so außergewöhnlich und einmalig, dass jeder Vergleich versagt; sie bilden eine Klasse für sich. So ein Werk ist der japanische Animationsfilm „Belladonna of Sadness“. 1973 wurde er auf der Berlinale gezeigt und verstörte viele durch seine explizite Thematik und radikale Ästhetik; danach ging er unter und kurz darauf das anime-Studio „Mushi Productions“ bankrott. Jüngst wurden alte Kopien digital restauriert; nun ist zu hoffen, dass dieses Meisterwerk endlich sein verdientes Publikum findet.

 

Info

 

Belladonna of Sadness

 

Regie: Eiichi Yamamoto,

93 Min., Japan 1973;

mit: Aiko Nagayama, Tatsuya Nakadai, Katsutaka Ito

 

Weitere Informationen

 

„Belladonna of Sadness“ ist der dritte Teil der „Animerama“-Trilogie. Sie sollte mit erotischen Motiven erstmals Erwachsene ansprechen; zuvor waren japanische Animationsfilme nur für Kinder bestimmt. Ab 1969 schuf der manga-Mogul Osamu Tezuka, quasi Japans Walt Disney, gemeinsam mit dem Regisseur Eiichi Yamamoto die Filme „Tausendundeine Nacht“ und „Kleopatra“. Danach verließ Tezuka die Produktionsfirma, so dass Yamamoto den letzten Teil allein umsetzte. Er zog alle Register.

 

Protofeministischer essay von 1862

 

Der Film hat mit gängigen Erzähl- und Gestaltungsmustern von anime nichts gemein. Die schlichte Fabel beruht auf dem essay „La sorcière“ („Die Hexe“, 1862) von Jules Michelet, dem bedeutendsten liberalen Historiker im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Darin deutet er Hexerei als Ausdruck der Volksweisheit im Mittelalter und eine Form des Widerstands gegen Unterdrückung durch die Obrigkeit. Diesen protofeministischen plot verwandelt der Regisseur in eine der verwegensten Form- und Farbexplosionen, die je auf die Leinwand kamen.

Offizieller Filmtrailer, englische Untertitel


 

Von Brigitte Bardot bis Addams Family

 

Heldin Jeanne ist eine rassige Schönheit vom Typ Brigitte Bardot; ihr Geliebter Jean gleicht mit markanten Zügen und Pilzkopf-Frisur dem Frontmann einer beat band. Das arme Paar muss sich für seine Hochzeit die Erlaubnis des grausamen Herrschers erkaufen; er beansprucht für sich das ius primae noctis. Der Tyrann und sein Hofstaat treten als Gruselkabinett zwischen Fürst der Finsternis und Addams Family auf. Dagegen erscheinen seine Schergen und das geknechtete Bauernvolk mal als uniforme Menge, mal als skizzenhafte Schemen.

 

Noch abwechslungsreicher als die Figuren ist die Bildgestaltung; sie ändert sich alle paar Sekunden. Zart aquarellierte Standbilder wechseln mit detailreichen Panoramen, die wie Rollbilder an der Kamera vorbeiziehen. Ergänzt von klassisch animierten Passagen – und alles geht ständig nahtlos ineinander über.

 

Wie „Yellow Submarine“ auf speed

 

Dabei wird so ziemlich jede denkbare Technik eingesetzt: von verwischten Kohle- über präzise Bleistiftzeichnungen bis zu plakativer Acrylmalerei in Pop Art-Manier – als Jeanne einen Drogen-trip erlebt, rasen ihre Halluzinationen wie eine Sequenz aus dem Beatles-Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“ auf speed. Man kann sich ausmalen, was die Macher zu ihren irren Bildideen inspirierte.

 

Die Heldin muss viel erleiden: Vom Fürsten geschändet, wird sie vom Teufel heimgesucht, dem sie sich hingibt, wofür er ihr märchenhafte Kräfte verleiht. Sie steigt zur Respektsperson auf, ihr Geliebter wird zum Dorfvorsteher – nur um in Ungnade zu fallen: Jean wird die Hand abgehackt, Jeanne gefoltert und fast zu Tode gehetzt. Doch als die Pest das Land verheert, flehen alle die Gepeinigte um Hilfe an. Was folgt, ist die vielleicht kühnste Utopie, die je im Kino zu sehen war.

 

Anschauliche allseitige sexuelle Befreiung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Miss Hokusai" - japanischer Animationsfilm über das Künstlergenie Hokusai von Keiichi Hara

 

und hier einen Bericht über den Film “Wie der Wind sich hebt” – grandioser Animations-Historienfilm über die Zwischenkriegszeit von Hayao Miyazaki

 

und hier einen Beitrag über den Film „The Strange Colour of Your Body’s Tears“ – Experimental-Psychothriller im Brüsseler Jugendstil-Dekor von Hélène Cattet + Bruno Forzani.

 

Die Hexe sät mit Belladonna-Extrakt Lust und Liebe unter den Leuten; im Taumel der Tollkirsche stürzen sie sich in scham- und schrankenlose Orgien. Da paaren sich Jung und Alt, Mensch und Tier, Schnecke und Fliegenpilz in aberwitzigen Verschlingungen; alle Ausgeburten der Fantasie von Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel, Felicien Rops und Dalì feiern Stelldichein. Nie ward allseitige sexuelle Befreiung anschaulicher; diese Minuten sind sinnlicher und lasziver als Terabytes von Internet-Pornographie.

 

Solche Anarchie kann der Fürst nicht dulden: Da sich Jeanne nicht kaufen lässt, endet sie auf dem Scheiterhaufen. Es gibt viel Sex und Gewalt in „Belladonna of Sadness“, doch stets in subtile Symbolik verpackt. Scharen blutroter Fledermäuse stehen für Vergewaltigung; die Pest beginnt als schwarzer Atompilz und verbreitet sich durch schmatzende Zombie-smileys, und Orgasmen sind visuelle Achterbahnfahrten entlang der Körperkonturen. Kongenial begleitet von Musik: hymnischer westcoast pop wie im musical „Hair“, sphärischer space jazz und improvisierter progressive rock.

 

Mucha, Klimt + Schiele als Paten

 

Wobei der Film trotz aller Extravaganzen die Pop-Ästhetik zelebriert, die um 1970 in Mode war – und ihrerseits auf Künstler des Symbolismus und Jugendstil zurückgeht. Die Züge von Jeanne könnte Alfons Mucha gestaltet haben; kostbar schimmernde tableaus wirken wie von Gustav Klimt entworfen, und drastische Erotik sieht aus wie von Egon Schiele. Japanischer Eklektizismus at its best: Kaum zu glauben, dass dort ein formvollendetes Gesamtkunstwerk im psychedelic look entstand. Bewusstseinserweiternder kann Kino kaum sein: Wow, what a movie!