Berlin

Hello World – Revision einer Sammlung

Die ganze Welt ist ein Basar, oder: Die Geburt des Tourismus aus dem Geist des Souvenir-Einkaufs - Osman Hamdy Bey: Türkische Straßenszene (Detail), 1888, Öl auf Leinwand, 60 x 122 cm. © SMB / Andres Kilger. Fotoquelle: SMB
Kommt und seht: Die Nationalgalerie bereut, dass sie ganze Kunst-Kontinente bislang ignoriert hat – und sühnt das durch eine grandiose Tour d´Horizon mit 750 Werken. Ob in Indien, Mexiko oder auf Bali: Überall gibt es eine andere Moderne zu entdecken.

Mit „Hello World“ fing die Digitalisierung an: Damit setzte 1974 ein Handbuch für die Programmiersprache „C“ ein. Allem Anfang wohnt ja ein Zauber inne – das will diese Ausstellung ausnutzen. Noch einmal ganz von vorne beginnen: Wie sähe die Nationalgalerie heute aus, wenn ihre Bestände nicht aus exklusiv westlicher, sondern egalitär kosmopolitischer Perspektive zusammengetragen worden wären? Wenn man nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Europa und den USA, sondern herausragende Werke aus aller Welt gesammelt hätte?

 

Info

 

Hello World – Revision einer Sammlung

 

28.04.2018 -  26.08.2018

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin

 

Katalog im Juni;

Begleitheft gratis

 

Weitere Informationen

 

Ähnliche Fragen stellen sich derzeit alle Museen der Moderne. Ihre Meistererzählung von einer linearen Abfolge der Avantgarden wird unglaubwürdig; ihr Künstler-Kanon erodiert. Immer mehr Schwellenländer leisten sich neue Kunstmuseen, durchaus als nationale Statussymbole, und präsentieren stolz Gegenentwürfe. Siehe da: In allen Weltteilen gab und gibt es Gruppen von Künstlern, die über die Zentren der Modernität viel besser Bescheid wissen als diese über sie, und experimentierfreudig deren Formenvokabular auf eigene Themen anwenden – getragen und finanziert von einheimischen Galerien und Käufern.

 

Rundumschlag in allen Räumen

 

Der Globalisierung der Gegenwartskunst nun „Hello World“ zuzurufen, ist kein kecker Gruß, eher eine nachholende Geste. Die Entwicklung völlig verschlafen hat die Nationalgalerie zwar nicht: Sie stellte schon öfter Künstler und Strömungen abseits des Geläufigen vor – doch meist nur einzelne. Nun wagt sie den großen Rundumschlag: Alle Räume des Hamburger Bahnhofs sind einbezogen, samt der schier endlosen Saalflucht der Rieckhallen.

Interview mit Direktor Udo Kittelmann + Impressionen der Ausstellung


 

Die ganze Kunstwelt in 13 Kapiteln

 

Auf 10.000 Quadratmetern Fläche werden mehr als 250 Künstler mit rund 750 Arbeiten gezeigt. 200 kommen aus dem Fundus der Nationalgalerie, 150 aus anderen Berliner Museen – vor allem dem Ethnologischen und demjenigen für Asiatische Kunst – und 400 von fremden Leihgebern. Diese gigantische Menge haben 13 Kuratoren in ebenso viele Kapitel unterteilt; manche sind geographisch, andere zeitlich oder thematisch definiert. Recht unsystematisch und voller Lücken, aber auch mit etlichen Verbindungen und Wechselbezügen untereinander – wie die Kunstwelt selbst.

 

Einen neuen, politisch korrekten Kanon bietet diese Schau also nicht; aber ein unglaubliches Füllhorn verschiedenster Reize für faszinierende Entdeckungen. Etwa zur „indischen Moderne“: 2011 zeigte das Museum für Asiatische Kunst 100 Bilder von Rabindranath Tagore (1861-1941), dem Literaturnobelpreisträger von 1913. Sehr expressive, kaum klassifizierbare Arbeiten – leider fand ihre isolierte Präsentation wenig Aufmerksamkeit.

 

Adliger aus Java begründet Moderne

 

Nun stehen sie im Kontext ihrer Epoche: Angefangen mit den ätzenden politischen Karikaturen seines Neffen Gagendranath Tagore (1867-1938), der einem George Grosz an Schärfe nicht nachsteht, über den sozial engagierten, plakativen Stil von Satish Gujral (geb. 1925) bis zur Farbfeldmalerei eines Biren De (1926-2011) oder Krishen Khanna (geb. 1925), die von tantrischem Denken beeinflusst sind – rein abstrakt, doch in Komposition und Palette völlig anders als bei westlichen Kollegen. Und sie bilden nur eine von zahlreichen Schulen auf dem Subkontinent.

 

Wie viele Varianten von Modernität bislang weitgehend ignoriert wurden, zeigt auch die Abteilung zur Kunst auf Bali. Beginnend mit Belegen für europäischen Orientalismus im 19. Jahrhundert – auch Raden Saleh (1811-1880) bediente ihn mit exotischen Motiven. Der Adlige aus Java reiste 1829 nach Den Haag, wo er als erster Nichteuropäer akademisch ausgebildet wurde. Später lebte er lange in Dresden, doch seine effektvoll dramatischen Gemälde sind hierzulande fast vergessen. Anders in Indonesien: Da gilt er als Begründer der nationalen modernen Malerei.

 

Hybrid-Kunst für Balinesen + Touristen

 

Die Moderne nach Bali importierte aber Walter Spies (1895-1942): Der Ex-Lebensgefährte des Stummfilm-Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau ließ sich 1927 auf der Insel nieder. Sein zuvor neusachlicher Stil wandelte sich zu leuchtend dynamischem Magischen Realismus; 1934 gründete Spies mit dem Niederländer Rudolf Bonnet und dem lokalen Maler I Gusti Nyoman Lempad die Künstlergruppe „Pita Maha“. Sie wirkte stark prägend; bis heute werden Spies und Bonnet auf Bali als Wegbereiter der dortigen zeitgenössischen Kunst betrachtet.

 

Ihr Erfolg hatte handfeste Gründe: Balinesische Maler wollten ihr Repertoire modernisieren, um den Geschmack von Kolonialbeamten und Touristen zu treffen. Die wiederum zog der Mythos einer ursprünglichen Insel-Kultur an; sie wurde gerade deshalb eifrig gepflegt. So entstand eine einzigartige Hybrid-Kunst, von der erstklassige Beispiele aus den 1980/90er Jahren zu sehen sind: Pastellfarbene Wimmelbilder mit ineinander verschlungenen Figuren, die Episoden uralter Hindu-Epen gleichrangig mit Elementen heutiger Technik wie etwa Flugzeugen behandeln.

 

Moderne ist keine Einbahnstraße

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung  "Unvergleichlich. Kunst aus Afrika" - hervorragende Gegenüberstellung von afrikanischen und europäischen Skulpturen im Bode-Museum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "A Tale of Two Worlds" - umfassende Vergleichs-Ausstellung von Nachkriegskunst aus Lateinamerika und Europa im MMK 1, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "The Global Contemporary – Kunstwelten nach 1989" zur Globalisierung des Kunstmarkts im ZKM, Karlsruhe

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "The Last Harvest: Rabindranath Tagore" - guter Überblick über das malerische Werk des indischen Literaturnobelpreisträgers im Museum für Asiatische Kunst, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Raden Saleh (1811–1880): Ein javanischer Maler in Europa" - erste europäische Retrospektive des indonesischen Malers im Lindenau-Museum, Altenburg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Art et Liberté - Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" - erste westliche Wanderschau zum Thema in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf.

 

Am entgegengesetzten Ende des Pazifiks sieht Modernität ganz anders aus. In Mexiko lassen sich Künstler von der frontal-flächigen Stilisierung präkolumbischer Kulturen ebenso inspirieren wie von der Farbenflut der Tropen. Ein Resultat ist der monumental-agitatorische „Muralismo“ etwa eines Diego Rivera, ein anderes der mexikanische Surrealismus. Als grellbuntes Stakkato von Schockeffekten zwischen Dalì und Fantasy, Max Ernst und Alptraum – wohl erstmals in Berlin zu sehen.

 

Hinter jeder Wegbiegung wartet ein neues Wechselbad der Eindrücke: Kühle Op-Art und kinetische Kunst aus Kroatien, posttotalitäre Soz-Art aus Slowenien; abstrakte US-Maler, die indianische Motive übernehmen oder japanische Avantgardisten, die sich im Berlin der 1920er Jahre inspirieren lassen. Wenn es in diesem riesigen Kaleidoskop einen roten Faden gibt, dann am ehesten denjenigen omnipräsenter gegenseitiger Einflüsse. Nicht alles hängt mit allem zusammen, aber vieles mit vielem. Die Moderne ist keine Einbahnstraße – schon gar nicht aus einem westlichen Zentrum in nachholende Peripherien.

 

Überholte Nachkriegskunst-Klassiker

 

Da wirkt es befremdlich, wenn trotzdem ein halbes Dutzend Einzelkünstler auf Podeste gehoben wird, indem man komplette „Zwischenräume“ mit ihren Großinstallationen füllt. Die vom Moskauer Konzeptualisten Ilya Kabakov sieht mittlerweile nicht nur optisch blass aus; über die monotonen „Date Paintings“ von On Kawara ist die Zeit längst hinweg gegangen. Und Joseph Beuys‘ Basalt-Hinkelsteine bleiben unverrückbar liegen, weil ihr Abtransport offenbar zu schwer fällt.

 

Kalauer beiseite: Gerade die Dichte und Fülle nichtwestlicher Kunst lässt deutlich werden, wie überholt und öde viele Klassiker des westlichen Nachkriegskunst-Kanons inzwischen wirken. Robert Rauschenberg, Cy Twombly oder Andy Warhol stehen für eine längst verflossene Ära; das Missverhältnis von Aufwand und Ausdrucksschwäche ihrer Materialschlachten macht sie reif fürs Depot. Zumindest in dieser Ausstellung würde sie kein Besucher vermissen.

 

Bitte bald „Hello World 2.0“!

 

Natürlich ließe sich bemängeln, dass vieles fehlt: Warum wird Armenien ein eigener Saal gewidmet, aber der übrige Kaukasus ausgeblendet? Außer Mexiko ist kein lateinamerikanisches Land vertreten, außer ein paar Vorkriegs-Japanern fehlt Ostasien gänzlich – Afrika gleichfalls. Doch diese Schau ist keine Kunst-Olympiade, sondern eine grandiose Geste des Scheuklappen-Ablegens. Alles weitere mag sich künftig fügen: Wir freuen uns auf das Update „Hello World 2.0“!