Der Meeresspiegel steigt, die Erde bebt, Wirbelstürme häufen sich. Das Bewusstsein drohender Naturkatastrophen ist uns ständig präsent. Aber hat es solche Katastrophen nicht schon immer gegeben? Nein, sagen die Kuratoren der Hamburger Kunsthalle. Erst wenn ein Naturereignis als Katastrophe bildliche Form gewinnt, tritt es überhaupt als solches ins Bewusstsein. Und das war in der europäischen Kulturgeschichte lange nicht der Fall.
Info
Entfesselte Natur: Das Bild der Katastrophe seit 1600
29.06.2018 - 14.10.2018
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
in der Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Sockelgeschoss, Glockengießerwall 5
Sintflut als Theaterbühne
Die Sintflut als Urereignis vernichtender Naturgewalten regte die Fantasie der Künstler seit der Renaissance gewaltig an. Mit vielfigurigen Wimmelbildern und emphatischen Gesten suchten sie nach Strategien, das Unfassbare anschaulich zu machen. Die rettende Arche entschwand dabei schnell aus dem Blick. Sie rückte irgendwo an den Rand des Geschehens und ist bei Théodore Géricault um 1818 überhaupt nicht mehr auszumachen. Auf seinem beklemmend düsteren Ölgemälde dehnt sich das eisig graue Wasser bis zum Horizont.
Vorn klammern sich wenige Überlebende an schroffe Felsklippen. Und der Betrachter weiß: Keiner von ihnen wird überleben. Dieses Wissen um die Ausweglosigkeit der Situation nutzen die Künstler seit dem späten 18. Jahrhundert auch beim emotionsgeladenen Zoom auf ihre Figuren aus. Die Sintflut wird zur Theaterbühne menschlicher Affekte. Aufgerissene Augen, schreiende Münder, himmelwärts gereckte Arme: Wie der Mensch in Extremsituationen reagiert, scheint seit der Aufklärung weit mehr von Interesse, als die Frage nach Gottes Heilsplan, dessen Glaubwürdigkeit fraglich geworden ist.
Moralische Mahnung
Am 12. Oktober 1654 sauste das geheime unterirdische Pulvermagazin in Delft in die Luft. Die verheerende Explosion legte weite Teile der Innenstadt in Schutt und vernichtete 200 Häuser. Ein Laternenfunke hatte 40 Tonnen Schwarzpulver entzündet. Auf einer Radierung sieht man geborstene Balken, Häusertrümmer und menschliche Körperteile durch die Luft fliegen. Auch bei Gemälden setzte ein wahrer Boom ein, Spezialisten wie der Maler Egbert van der Poel profitierten von der Nachfrage. Das dokumentarische Katastrophenbild war geboren.
Zuvor hatte kaum ein Künstler die im Mittelalter häufigen Stadtbrände je festgehalten. Nun, in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, etablierten sich Feuersbrünste als eigenes Genre. Man nannte sie „Brandjes“. Sie befriedigten die Schaulust, spielten die neu entwickelte Helldunkelmalerei effektvoll aus und lieferten als moralischen Mehrwert eine erbauliche Mahnung an die Vergänglichkeit gleich mit.
Blick auf schöne Ruinen
Die gaffende Menge der schaulustigen Katastrophentouristen kommt um 1781 bei Hubert Robert ins Bild. Aus sicherer Entfernung verfolgen elegant gekleidete Damen und Herren den Pariser Opernbrand vom 8. Juni 1781, als handele es sich um einen theatralischen Bühneneffekt. Der lange in Rom lebende „Robert des Ruines“ hatte sich zuvor in der Darstellung antiker Ruinen geschult. Nun konnte er selbst miterleben, wie ein Bauwerk sich in eine Ruine verwandelte.
Tatsächlich veränderte die Wiederentdeckung und Erforschung antiker Ruinen den Blick auf die Ruinen der Gegenwart. Als die portugiesische Hauptstadt 1755 bebte und fast völlig vernichtet wurde, erschien eine Stichfolge der „schönsten Ruinen von Lissabon“. Dieses verheerende Erdbeben markiert kulturhistorisch einen interessanten Wendepunkt. Erst jetzt nämlich sprechen die Zeitgenossen bei solch einem Ereignis von einer „Katastrophe“. Eigentlich stammt dieser Begriff aus der Theatersprache und bezeichnet in der antiken Tragödie den Umschlagpunkt der Handlung.
Unerschrocken am Rand des Vulkans
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Wanderlust- Von Caspar David Friedrich bis Renoir" - in der Alten Nationalgalerie, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Es drängt sich alles zur Landschaft…" über "Landschaftsbilder des 19. Jahrhunderts" im Museum für bildende Künste, Leipzig
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Weltsichten" über Landschaft in der Kunst vom 17. bis zum 21. Jahrhundert im Kunstmuseum Dieselkraftwerk, Cottbus
Eifrig skizzierende Zeichner sieht man auf manchen Gemälden unerschrocken am Rande des Kraters hocken. So konnte sich daheimgebliebene Publikum fühlen, als wäre es selbst dabei gewesen. Eine regelrechte Massenproduktion von Vulkandarstellungen setzte ein. Da glüht feuriges Rotorange, drohend hinterleuchtete Schwaden wabern, Feuersäulen schießen empor und Gesteinsbrocken prasseln nieder.
Neonfarbene Lavaströme
Wie rasch sich feste Bildschemata etablierten und wie die Künstler sich mit ihren vulkanischen Farbsymphonien übertrumpften, lässt sich in einer üppigen Bildauswahl bewundern. Dass der künstlerische Vulkanismus bis heute nicht erkaltet, zeigen die Großformate von Bernhard Martin. Der 1966 geborene Künstler zeichnet seine Lavaströme in Neonfarben als feine Arabesken und Schnörkel auf die Leinwand.
Bevor es einem angesichts der glühenden Feuerströme zu heiß wird, spritzen zum Schluss wieder eisige Wasser als treibende Kraft der Katastrophen. Natürlich ist die Hamburger Sammlung selbst mit kapitalen Seestücken reichlich gesegnet. Auf Caspar David Friedrichs „Schiff im Eismeer“ gefriert die wilde Brandung zur eisigen Skulptur. Die sonst oft so hyperaktiv dargestellte Dynamik eines Katastrophengeschehens erstarrt hier zu einem Memento Mori, dessen klare, kalte Romantik noch immer berührt. Den Künstler inspirierte dazu der Eisgang auf der Elbe im klirrenden Winter 1820/21.
Verschlungen von der Monsterwoge
Kostbare Leihgaben halten mit Wucht dagegen. Ein krönender Höhepunkt der Schau ist der über drei Meter breite „Schiffbruch des Dreimasters Emily“ von Eugène Isabey. Der französische Meister der nassen Katastrophe reißt seine Betrachter mit in einen Strudel visueller und emotionaler Effekte. Nasser kann selbst echtes Wasser nicht aussehen. Eine Monsterwoge verschlingt die hilflosen Rettungsboote und wirbelt die Menschen wie Treibgut herum.
Aus den blaugrauen Farbstrukturen der aufgewühlten Fluten formen sich zwei dunkle Höhlen, das Antlitz eines Totenschädels. Zuviel der Symbolik? Es steckt echtes Grauen in diesem immersiven Kunstwerk, dessen Wucht sich in keiner Reproduktion wiedergeben lässt. Als Beigabe dazu gibt es den allerersten Titanic-Film von 1912. Er kam wenige Monate nach dem Untergang des Ozeanriesen in die Kinos.
Rettung am Horizont
Die Ausstellung endet, wie sie begann, mit Géricault. Dessen berühmtes „Floß der Medusa“ aus dem Louvre durfte nicht anreisen. Aber mitsamt den staunenden Museumsbesuchern davor bringt ein großformatiges Foto von Thomas Struth es in Erinnerung. Ein realer Schiffbruchskandal diente dem Maler als Vorlage für seine riesige Leinwand-Dokufiktion. Die Überlebenden auf dem Floß winken verzweifelt, andere liegen schon totenstarr auf den Planken. Ist winzig klein am Horizont Rettung in Sicht?
Was man noch vor wenigen Jahren einfach als meisterhafte Darstellung einer historischen Schiffbruchtragödie bewundern konnte, hat sich mittlerweile mit politischer Brisanz neu aufgeladen. Géricaults Komposition überblendet sich mit den Medienbildern der gestrandeten Schiffbrüchigen, Überlebenden und Ertrunkenen an den europäischen Küsten der Gegenwart. Die heutigen Katastrophen sind von Menschen gemacht.