Christoph Rüter

Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph

Hans Blumenberg. Foto: Real Fiction Filmverleih
(Kinostart: 22.11.) Geistesgeschichte gegen den Strich gebürstet: Damit wurde Hans Blumenberg zu einem der wichtigsten Denker der alten Bundesrepublik. Sein Biopic inszeniert Regisseur Christoph Rüter als originelles Road Movie auf Spurensuche.

Mission Impossible: Wie soll man bloß das Leben von Philosophen verfilmen? Also von Leuten, die normalerweise ihr Dasein an Schreibtischen in Bibliotheken fristen? Dort studieren sie Texte, denken darüber nach und verfassen andere Texte. Wenn sie Professoren sind, halten sie zuweilen Vorträge oder Seminare in nüchternen Hörsälen ab. Meist viele Jahre lang; im besten Fall entsteht dabei so etwas wie eine neue Sicht auf die Welt.

 

Info

 

Hans Blumenberg –
Der unsichtbare Philosoph

 

Regie: Christoph Rüter,

102 Min., Deutschland 2018;

mit: Burkhard Lütke Schwienhorst, Klaus Schölzel, Dr. Rüdiger Zill

 

Weitere Informationen

 

Dabei verschwindet ihre eigene Person oft hinter dem Werk. Hans Blumenberg (1920-1996) forcierte das beinahe bis zur Perfektion: Nur eine Handvoll Fotos von ihm ist bekannt. Öffentliche Auftritte beschränkte er auf wöchentliche Vorlesungen an der Universität Münster, wo er seit 1970 lehrte. Nach der Emeritierung 1985 montierte er an seinem Privathaus sogar die Türklingel ab, um umgestört zu bleiben. Zugleich publizierte er fast im Jahrestakt dickleibige Bücher mit vertrackten Titeln wie „Die Legitimität der Neuzeit“ (1966), „Arbeit am Mythos“ (1979) oder „Höhlenausgänge“ (1989).

 

Star-Vordenker ohne Lehrgebäude

 

Zurecht nennt ihn Regisseur Christoph Rüter im Untertitel seiner Doku: „Der unsichtbare Philosoph“. Dem nachzuspüren sich trotzdem lohnt: Auf seine Weise war Blumenberg ein Star-Vordenker der alten Bundesrepublik. Ohne ein Lehrgebäude zu konstruieren, das sich auf eingängige Kernthesen reduzieren ließe, wie etwa Niklas Luhmanns Systemtheorie oder die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Ebenso wenig mischte er sich wie Habermas in aktuelle politische Debatten ein.

Offizieller Filmtrailer


 

Virtuoses Jonglieren mit Riesen-Fundus

 

Doch Blumenbergs Reflexionsstil beeindruckte viele: Bestechend präzise analysierte er Begriffe und Metaphern aus 2500 Jahren Philosophie; damit gewann er ihnen allerhand überraschende Einsichten ab. Das war weit mehr als gelehrte Geistesgeschichte; eher ein virtuoses Jonglieren mit Argumenten aus dem Riesen-Fundus des abendländischen Denkens. Da kommt eines zum anderen, die Sache droht uferlos zu werden – und nimmt dann verblüffende Wendungen.

 

Auch Regisseur Rüter, der mehr als ein Dutzend Dokus über Kulturbetriebs-Berühmtheiten gedreht hat, ist bekennender Blumenberg-Fan. Er nähert sich dem großen Unsichtbaren mit einem so simplen wie wirkungsvollen Kunstgriff: indem er zwei Blumenberg-Schüler und einen -Forscher auf Deutschlandreise schickt. Burkhard Lütke Schwienhorst betreibt heute eine Werbeagentur, Klaus Schölzel fährt Taxi, und Rüdiger Zill arbeitet am „Einstein Forum“ in Potsdam. In einem Kleinbus fahren sie gemeinsam dem Lebensweg des Philosophen nach und besuchen diverse Blumenberg-Kenner.

 

Gott fürchtet eigene Schöpfung

 

Der Hochbegabte legte 1939 in Lübeck das beste Abitur in ganz Schleswig-Holstein ab, durfte aber als „Halbjude“ die traditionelle Ansprache nicht selbst halten. Das übernahm ein Freund, der Blumenbergs Redetext vorlas; darin verpflichtete er ausgerechnet die rassistischen Nazis, das Erbe des Humanismus zu bewahren. Ähnlich kühn sollte er später den alttestamentarischen Salomo-Spruch umdeuten, der in der Aula seines Gymnasiums prangte. „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ interpretierte er als Furcht Gottes vor seiner eigenen Schöpfung – Angst als Stimulans für Klugheit.

 

Nach diesem Muster verbindet Regisseur Rüter geschickt Ortstermine mit zentralen Motiven aus Blumenbergs Arbeiten. In der Altstadt von Lübeck zeigt seine Tochter Bettina, Dozentin an der Münchener Akademie der Bildenden Künste, dem Trio ein unscheinbares Haus. Auf seinem Dachstuhl musste sich ihr Vater vor Kriegsende fast ein Jahr lang verstecken, um den NS-Häschern zu entgehen. Von ihnen bemerkt zu werden, wäre sein Todesurteil gewesen.

 

Segensreiches Vergessen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der junge Karl Marx" – hervorragendes Biopic über den Philosophen von Raoul Peck mit August Diehl

 

und hier eine Besprechung des Films "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin von Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa

 

und hier einen Bericht über den Film "Alles was kommt – L’Avenir" – Lebensdrama einer Philosophie-Lehrerin von Mia Hansen-Løve mit Isabelle Huppert

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste" - prätentiös überfrachtete Schau zum Lebenswerk des Medientheoretikers in Karlsruhe + Berlin.

 

Kein Wunder, dass die „Höhle“ als Schutzraum zur „Selbstbehauptung“ des Menschen später in seinen Schriften eine wichtige Rolle spielen sollte. Jeder Blick ist potentiell bedrohlich; nur der Tod aller sehenden Wesen böte absoluten Schutz, spitzt Bettina Blumenberg diesen Gedanken zu. Ihr Vater ließ sich lange bitten, bevor er zur Illustration einer Zeitschrift ein einziges Foto von sich herausrückte, erzählt Michael Krüger, früherer Leiter des Hanser-Verlags. Trotz häufiger, stundenlanger Telefonate hat er seinen Autor nie persönlich getroffen.

 

Allerdings vermeidet Regisseur Rüter eine flache Gleichsetzung von Leben und Werk. Im Gegenteil: Gespräche mit Blumenberg-Experten werden zu geistigen Höhenflügen für aufmerksame Zuhörer. So erklärt etwa der Theologe Philipp Stoellger, welcher Segen im Vergessen liege. Nur wer Vergangenes fallen lasse, könne sich Künftigem zuwenden und Neues erfinden: „Nicht vergessen zu können, ist die absolute Hölle – ein overkill der memoria.“ Solche komplexen Überlegungen erfordern minutenlanges konzentriertes Lauschen.

 

Nach Doku zum Buch greifen

 

Dennoch wird der Film nie eintönig; dafür sorgen häufige Stationswechsel und drei Laien-Hauptdarsteller, die sich in lebhaften Dialogen die Bälle zuspielen. Ihre Begeisterung für Blumenbergs Themen und Thesen wirkt ansteckend – und damit für Philosophie an sich. Sie hat in den letzten 30 Jahren enorm an Ansehen und Bedeutung verloren, weil sie keine Produkte und Profite hervorbringt; zurzeit gelten nur die technischen MINT-Fächer als sinn- und wertvoll.

 

Menschen denken aber nicht in binären Zeichenketten; sie können sich nur in gewöhnlicher Sprache über sich selbst und ihre Stellung in der Welt bewusst werden. Das lehrt sie die Philosophie, was Regisseur Rüter anschaulich vorführt. Sein Film macht große Lust, im Anschluss sofort ein Blumenberg-Buch zu lesen – was ließe sich Besseres über diese Doku sagen?