Paris + Basel

Le Cubisme / Kosmos Kubismus: Von Picasso bis Léger

Robert Delaunay: L’Équipe de Cardiff, 1912-1913 (Detail), 326 x 208 cm; © Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris; Fotoquelle: © Centre Pompidou, Paris
Erschöpfend erhellender Epochen-Rundumschlag: Das Centre Pompidou zeichnet mit 300 Werken so schlüssig wie ausführlich die Geschichte des Kubismus nach. Die konzentrierte Version im Kunstmuseum Basel behält den roten Faden bei, beschränkt sich aber aufs Wesentliche.

Dreihundert kubistische Werke! Das erfordert robuste Kondition. Irgendwann bekommt man das Flimmern und Flackern der zersplitterten Bildwelten nicht mehr aus dem Blick. Sieht nicht ohnehin ein Bild aus wie das andere? Die aufufernde Ausstellung im Pariser Centre Pompidou erweist sich als Stresstest für Seh- und Stehvermögen.

 

Info

 

Le Cubisme 

 

17.10.2018 - 25.02.2019

täglich außer dienstags

11 bis 21 Uhr,

donnerstags bis 23 Uhr

in der Galerie 1 im Centre Pompidou, Place Georges Pompidou, Paris

 

Französ. Katalog 49,90 €

 

Weitere Informationen

 

Kosmos Kubismus: Von Picasso bis Léger

 

30.03.2019 - 04.08.2019

täglich außermontags

10 bis 18 Uhr,

mittwochs bis 20 Uhr

im Kunstmuseum Basel, St. Alban-Graben 8, Basel

 

Weitere Informationen

 

Zumal man sich das visuelle Abenteuer mit Besuchermassen teilen muss, die ebenfalls zu ergründen suchen: Was ist eigentlich dran an dieser legendären avantgardistischen Kunstrichtung, die längst Klassiker-Status genießt? Kurz bevor die Sehmuskeln endgültig erlahmen, bricht ein Ereignis in die Chronologie der Werke ein – und man ist wieder hellwach.

 

Vom Befreiungsschlag zur Salonkunst

 

Wie der Erste Weltkrieg die selbstverliebte Kunstszene um Picasso, Georges Braque und ihre Weggefährten zerlegte, und wie die Maler auf diese Katastrophe mit den Mitteln des Kubismus reagierten, ist hochinteressant. Ansonsten schafft es die Ausstellung, den üppigen hauseigenen Bestand des Centre Pompidou mit Leihgaben aus Europa und Übersee derart zu ergänzen, das kein Aspekt unbeleuchtet bleibt.

 

Die flotten Wandlungen vom analytischen bis zum synthetischen Kubismus, vom Ölbild bis zur Papiercollage zeichnet die Schau lückenlos nach: Selten gab es eine Strömung der Moderne, die sich so schlüssig aus ihrer Chronologie erschließt. Der Kubismus begann als ruppige Befreiungsgeste junger Künstler und endete schon wenig später als breitentaugliche Salonkunst.

Französ. Feature zur Ausstellung "Le Cubisme"; © Centre Pompidou


 

Kollektive Unternehmung

 

Aber er krempelte das Bildverständnis der Moderne nachhaltig um: Nie zuvor war das WIE so radikal über das WAS einer künstlerischen Darstellung gestellt worden. Der Impuls dazu kam von außen. Eurozentrismus adé: Als selbstbewusste Machtdemonstration außereuropäischer Kulturen baut sich im ersten Raum eine Breitseite afrikanischer Schnitzmasken auf.

 

Deformierte Gesichter, hypnotische Augenschlitze: Für den jungen Picasso und seine Zeitgenossen war dieser Anblick um 1905 ein Aha-Erlebnis mit Tiefgang. Bald standen genau diese, hier jetzt versammelten Stücke in den Ateliers der jungen Avantgarde, etwa bei dem Maler Braque oder dem Dichter Guillaume Apollinaire. Fotos zeigen die Freunde in Picassos Atelier: Der Kubismus war auch ein kollektives Unternehmen.

 

Landschaften aus Bauklötzen

 

Mit Primitivismus ging es los. In heftigen Gesten arbeiteten sich Picasso, André Derain und Georges Braque daran ab. In rohem Stein, widerspenstigem Holz und auf Leinwand werden neue Formen des Figurenbildens erprobt. Das sieht wild aus, gewollt primitiv, ja aggressiv. Seinem legendären Bildnis der Sammlerin Gertrude Stein verpasste Picasso nach 70 unbefriedigenden Modellsitzungen das Gesicht einer Maske. Dieser Meilenstein ist aus dem New Yorker „Metropolitan Museum“ angereist: ein Durchbruch zur antinaturalistischen Form.

 

Nun geht es Schlag auf Schlag. Im Wettstreit arbeiten Braque und Picasso an der Radikalisierung ihrer Formensprache. Den berühmten Ausspruch von Paul Cézanne, man müsse die Welt als Kugel, Kegel, Zylinder sehen, nehmen sie wörtlich. Ihre Landschaften – auf Grün-, Ocker- und Brauntöne reduziert – sehen nun aus wie aus Bauklötzen geschachtelt.

 

Aufschlussreich, aber auch ermüdend

 

Das seien ja nur „cubes“ („Würfel“), quittiert Malerkollege Henri Matisse. Er gibt damit das Stichwort für den Markennamen „Kubismus“, der sich rasch etabliert. Im spanischen Horta de Ebro und im französischen L´Estaque treiben die Kunstpioniere ihr Abenteuer voran. Sie setzen die gewohnten Wahrnehmungsmuster außer Kraft. Eigenmächtig wird der perspektivische Tiefenraum zerschlagen, zerstückelt und aus Facetten und Kuben neu zusammengesetzt.

 

Den plastischen Porträtkopf seiner Partnerin Fernande knetet Picasso so heftig zurecht, dass das durchfurchte Gebilde einem halbabstrakten Blumenkohl gleicht: Die erste kubistische Skulptur ist geboren. Ein ganzer Raum ist den Zeichnungen und Gemälden zu diesem Werk gewidmet. So nimmt sich die Ausstellung immer wieder Raum, einzelne Entwicklungsschritte peu á peu nachzuerzählen. Das ist aufschlussreich, aber Ermüdungseffekte bleiben nicht aus.

 

Nah an der Abstraktion

 

Spätestens beim analytischen Kubismus, der das ganze Bild in kleine geometrische Partikel aufsplittert, läuft sich der Variantenreichtum tot. Eigentlich erfordert jedes einzelne dieser Werke eine eingehende Betrachtung. Es sind kleinteilige Bilderrätsel, die aus wenigen Andeutungen einen Pfeifenraucher oder einen Stierkampf-Afficionado entstehen lassen. Wie weit kann man gehen, ohne völlig in die Abstraktion abzudriften?

 

Picasso und Braque haben sich weit vorgewagt. Nun schlagen sie wieder Pflöcke der Realität als Anhaltspunkte in die geometrischen Bildwelten ein: hier ein ondulierter Schnurrbart, da ein Stück Tapete oder ein Nagel, der ganz profan einen Schatten wirft. Auch die Galeristen, die den neuen Stil fördern, werden kubistisch durchdekliniert. Sie bleiben trotzdem wiedererkennbar: der graubärtige Ambroise Vollard und der junge Avantgardehändler Daniel-Henry Kahnweiler.

 

Artifizielles Spiel für Ästheten

 

Auf dieselbe grau-beige-braunen Farbtonlage eingestellt, reihen sich Stillleben als hochartifizielle Gebilde aneinander. Wortfetzen tauchen auf, immer wieder auch Chiffren des Musikalischen: eine Klaviertastatur, ein Flötenhals, ein Violinschallloch. Dieser Kubismus ist ein selbstreferentielles Spiel für Ästheten.

 

Auf bunte Farben verzichteten Picasso und Braque zunächst, um sich ganz auf ihre neue Formensyntax zu konzentrieren. Damit war Schluss, als die zweite Generation der sogenannten Salon-Kubisten die Bühne betrat. Maler wie Jean Metzinger, Albert Gleizes und Henri Le Fauconnier erweitern den Horizont der Ausstellung über die üblichen Verdächtigen hinaus.

 

Vom Urbanen inspiriert

 

Jetzt werden die Formate riesig: Wer seinerzeit auf den Pariser Salon-Ausstellungen Aufmerksamkeit erzielen wollte, durfte nicht kleckern. Der Kubismus zeigt nun sein dekoratives Gesicht. Ob klassischer Frauenakt oder repräsentatives Ganzkörperporträt, jedes Genre ließ sich auf diese Weise modernisieren. Auf Fernand Légers monumentalem Brautpaarbild „La Noce“ findet man die Liebenden kaum wieder. Dafür besticht die Komposition mit dynamischen Rhythmuswechseln und tollem Blau.

 

Sogar die klassischen drei Grazien malte Léger kubistisch zerklüftet vor Eiffelturm-Kulisse auf eine panoramatische Vier-Meter-Leinwand. Spätestens jetzt wird klar, dass der Kubismus eine sehr urbane Kunstform war. Er schuf ein Stiläquivalent zur disparaten, fragmentierten Großstadtgegenwart – aber immer noch im klassischen Geviert des Tafelbilds.

 

Von der Leinwand in die dritte Dimension

 

Aber noch lange ist nicht Schluss. Picasso und Braque treiben ihre Experimente weiter. Sie erfinden die Collage, kleben Papiere und Brettchen zu dreidimensionalen Assemblagen. Die Bildhauer Jacques Lipchitz und Henri Laurens praktizieren dagegen Kubismus mit dem Meißel. Ihre zeitlos klassischen Skulpturen stehen still und poetisch im Raum, trotz kantiger Formen.

 

Juan Gris brilliert als Dompteur poppiger Farben: in apartem Violett, Kirschrot und Ultramarin. Im nun vorherrschenden synthetischen Kubismus ziehen sich die Formfragmente zu großzügigen Flächen zusammen. Sonia Delaunay kooperiert mit dem Dichter Blaise Cendrars; es ist nur eine von vielen literarischen Vernetzungen. Marie Laurencin versammelt die Kreativszene zum Gruppenbild um Apollinaire, den großen Stichwortgeber und Promoter.

 

Kubistisch wie der Krieg

 

Und dann ist plötzlich der Erste Weltkrieg da. Der Maler Pierre Albert-Birot, als untauglich ausgemustert, schleudert 1916 auf seinem Gemälde „La Guerre“ Farbkontraste und spitzwinklige Diagonalen gegeneinander ins Feld: ein hilfloser Versuch, eine Sprache für die Katastrophe zu finden. Léger, bereits an die Front beordert, schreibt seiner Freundin: „Es gibt nichts Kubistischeres als diesen Krieg.“

 

Sein Zeichenstift verwandelt die Soldaten in Kampfmaschinen aus stahlblitzenden Röhren. Wie ein Stahlmonster schraubt sich auch Raymond Duchamp-Villons schwarzes „Großes Pferd“ in den Raum; eine Plastik wie ein „Projektil“, so Matisse. Dem deutschen Kunsthändler Kahnweiler raubt der Kriegsausbruch übrigens seinen gesamten Galeriebestand: Hunderte Kubismus-Werke werden beschlagnahmt und unter Wert versteigert.

 

Ausgereizte Bildsprache

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Picasso in der Kunst der Gegenwart" - hervorragender Überblick über seine Wirkungsgeschichte in den Deichtorhallen, Hamburg

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Léger – Laurens: Tête-à-tête" - Gegenüberstellung der Kubismus-Varianten von Fernand Léger + Henri Laurens im Museum Frieder Burda, Baden-Baden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "William Wauer und der Berliner Kubismus" - Wiederausgrabung einer vergessenen Kunstströmung in Berlin + Ulm

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Tschechischer Kubismus im Alltag - Artel 1908 - 1935" - facettenreiche Design-Schau im Grassi-Museum, Leipzig.

 

Der Spanier Picasso hingegen darf als neutraler Ausländer unbehelligt in seinem Pariser Atelier weitermalen. Aber er zollt patriotisch Respekt und pinselt ein „Vive la France“ samt Tricolore in ein kubistisches Stillleben. Doch die große Zeit des Kubismus ist vorbei. Picasso wird das für ihn ausgereizte Idiom bald aufgeben. Ab 1917 malt er zunehmend neoklassizistisch in schönster unzerstückelter Figürlichkeit.

 

Gut ein Jahrzehnt lang hat der Kubismus Kunstgeschichte geschrieben. Wer die Pariser Schau verpasst, bekommt ab 30. März 2019 im Kunstmuseum Basel eine zweite Chance. Die Schweizer verdichten ihren „Kosmos Kubismus“ mit Bedacht auf 130 Arbeiten – jedes ein Meisterwerk. Dabei bleibt die chronologische Statur der Schau vom Primitivismus bis zum Ersten Weltkrieg komplett erhalten. Aber vor allem beim Salonkubismus, bei den literarischen Querverbindungen und bei der Bildhauerei wird ausgedünnt.

 

Schweizer Bankier-Sammler

 

Doch warum ausgerechnet Basel? Hier unterhält der Pariser Kubismus seit Jahrzehnten eine Außenstelle mit einem Ensemble wichtiger Hauptwerke: Das Kunstmuseum erfreut sich einer der besten Kubismus-Kollektionen außerhalb Frankreichs. Seine Filetstücke verdankt das Museum einem üppigen Geschenk des Schweizer Bankiers Raoul Albert la Roche (1889-1965). Er siedelte 1917 als junger Mann nach Paris über und verliebte sich dort in den Kubismus.

 

Für seine wachsende Sammlung baute ihm der befreundete Avantgarde-Architekt Le Corbusier in Paris-Auteuil eine schick-asketische Junggesellenvilla. Als museales Kleinod ist sie heute zu besichtigen und absolut sehenswert – aber leergeräumt. Denn seine exquisiten Kubismus-Werke vermachte der kunstsinnige Bankier seiner Heimatstadt: Sie hängen seit den 1950er Jahren in Basel.