Marine Francen

Das Mädchen, das lesen konnte

Violette (Pauline Burlet) ist das Mädchen, das lesen konnte - hier beim Blick in einen Wasserkrug. Foto: FilmKino Text
(Kinostart: 10.1.) Der Titel ist weniger banal, als es scheint: Mit Lektüre angelt sich Violette ihren Mann. Als einzige im Dorf, dessen Frauen allein für sich sorgen – aus einer Episode von 1852 macht Regisseurin Marine Francen einen stimmungsvoll sinnlichen Historienfilm.

Geschlechterkampf ganz anders als gewohnt: Im Dezember 1851 putscht der französische Präsident Louis-Napoléon Bonaparte, indem er die Verfassung der II. Republik außer Kraft setzt. Darauf folgende Unruhen in Frankreichs Regionen lässt er blutig niederschlagen. Seine Soldaten verschleppen auch alle Männer eines provenzalischen Bergdorfs; sie waren Parteigänger der Republik.

 

Info

 

Das Mädchen, das lesen konnte

 

Regie: Marine Francen,

99 Min., Frankreich 2017;

mit: Pauline Burlet, Alban Lenoir, Géraldine Pailhas

 

Website zum Film

 

Zurück bleiben nur Frauen mit Kindern. Als offenkundig wird, dass sie auf sich selbst gestellt sind, organisieren sie ihr Dorfleben ohne Männer: von Ackerbau und Viehzucht bis zur Reparatur der Häuser. Das funktioniert im Rhythmus der Jahreszeiten prächtig – nur nicht zur Familiengründung. So vereinbaren die heiratsfähigen Mädchen: Der erste Mann, der in diesen abgeschiedenen Weiler kommt, soll nacheinander allen gehören.

 

Wander-Schmied als Erntehelfer

 

Im Folgejahr ist es soweit: Während der Erntezeit taucht plötzlich ein stattlicher Bartträger (Alban Lenoir) auf. Er nennt sich Jean, gibt vor, ein Schmied auf Wanderschaft zu sein, und hilft tatkräftig beim Sensen und Dreschen mit. Entdeckt hat ihn Violette (Pauline Burlet), deren Vater ihr Lesen und Schreiben beibrachte – als einziger Frau des Dorfes.

Offizieller Filmtrailer


 

Fantasie vom einzigen Hahn im Korb

 

Die Begeisterung für Literatur – genauer: zu den wenigen Bänden, die sie ihr eigen nennen – verbindet Jean und Violette: Sie liest ihm beim Abendessen vor. Während sie romantische Verse von Victor Hugo über Leidenschaft und Vergänglichkeit vorträgt, geschieht, was geschehen muss. Doch ihr exklusives Liebesglück währt nicht lang: Alsbald erinnern Violettes Altersgenossinnen sie an die gemeinsame Abmachung. Zunächst sträubt sich Jean, dann willigt er widerstrebend ein – bis plötzlich einige der entführten Männer wieder zurückkehren.

 

Die unsterbliche Männerfantasie, der einzige Hahn im Korb voller Hennen zu sein, ist schon öfter in verschiedenen Szenarien verfilmt – und meist als Alptraum der Überforderung entlarvt worden. In dieser Variante wird der Blickwinkel umgekehrt. Es geht um die Perspektive der Frauen: wie sie allein völlig zurecht kommen, und was sie dennoch von Männern erhoffen – vor allem Mutterglück und Fortbestand der Gemeinschaft.

 

Vorlage nach 87 Jahren veröffentlicht

 

Dafür ist „Das Mädchen, das lesen konnte“ ein weniger banaler Titel, als es scheint: Ihr Wissensvorsprung verschafft Violette Zugang zu Jean und stellt zwischen ihnen eine geistige Gemeinsamkeit her. Im Original heißt der Film so schlicht wie vielsagend „Le Semeur“ („Der Sämann“). Das Drehbuch beruht auf einem 30-seitigen autobiographischen Manuskript, das eine gewisse Violette Ailhaud 1919 als 84-Jährige verfasst haben soll. Darin berichtet sie, was sie 1852 als 16-Jährige erlebt habe; ihr Text wurde erstmals 2006 in einem Kleinverlag veröffentlicht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ein Leben" - subtile Verfilmung des Romans von Guy de Maupassant über eine Bürgersfrau im 19. Jahrhundert durch Stéphane Brizé

 

und hier eine Besprechung des Films "Licht" - Historien-Drama über eine blinde Pianistin und weibliche Emanzipation im 18. Jahrhundert von Barbara Albert

 

und hier einen Beitrag über den Film "Les Miserables" - opulente Musical-Verfilmung von Tom Hooper nach dem Roman-Klassiker von Victor Hugo.

 

Ob authentisch oder nicht: Aus dieser Vorlage macht die Regisseurin Marine Francen einen beeindruckenden Debüt-Spielfilm. Mit schnörkellos chronologischer Erzählweise und einem glänzend eingespielten Frauen-Ensemble: Die Dörflerinnen machen nicht viele Worte. Meist genügen ihnen Blicke und verhaltene Gesten, um komplexe Seelenlagen zu veranschaulichen.

 

Reiz der dezenten Utopie

 

Für den malerischen Rahmen sorgen das weite Gebirgspanorama, schmale Gassen zwischen Steinhäusern und Alltagshandlungen, deren geerdete Sinnlichkeit quasi umstandslos in Liebesszenen übergehen. So wird eine archaisch anmutende Bauernwelt vor 170 Jahren sehr nah gerückt. Diese kunstvoll kunstlose Machart, Historienfilme ganz gegenwärtig und selbstverständlich erscheinen zu lassen, zeichnet das französische Autorenkino aus: Es ist eben mit vormodernem Landleben und klassischen Autoren vertrauter als hierzulande.

 

Zwar wäre es leicht, den protofeministischen Aspekt der Geschichte herauszustreichen und für den heutigen Geschlechterkampf in Stellung zu bringen. Doch das täte dem Reiz dieses Films unrecht: Er ignoriert die üblichen Frontverläufe. Stattdessen treten alle Protagonisten als so passionierte wie kooperative Wesen auf; diese dezente Utopie macht ihn zum kleinen Meisterwerk.