69. Berlinale

Schmallippiger Staatsbetrieb

Goldener Bär für Nadav Lapid für den Siegerfilm: "Synonymes", Frankreich / Israel / Deutschland 2019. Foto: © Richard Hübner. Fotoquelle: Berlinale.de
Abspann läuft: Nach 18 Jahren wird Direktor Dieter Kosslick abgelöst. Seine letzten Filmfestspiele bieten den gewohnten Kessel Buntes mit gemischtem Preisträger-Potpourri – auf die Herausforderungen durch Zensur und Streaming findet die Berlinale keine Antwort.

Eigentlich müsste Direktor Dieter Kosslick dem KP-Politbüro in Beijing dankbar sein: Es verschaffte seiner geruhsam dahinplätschernden Abschluss-Berlinale kurz vor Schluss einen Knalleffekt. Der letzte Film im Wettbewerb, „One Second“ von Zhang Yimou, wurde überraschend zurückgezogen. Er handelt von einem Häftling, der während der Kulturrevolution aus einem Arbeitslager flieht; das gefiel scheinbar Chinas Zensoren nicht.

 

Info

 

69. Berlinale

 

07. – 17.02.2019
in diversen Spielstätten, Berlin

 

Website des Festivals

 

Nun ist Zhang Yimou nicht irgendwer, sondern der renommierteste Star-Regisseur des chinesischen Kinos; sein Weltruhm begann zudem auf der Berlinale, als er dort mit „Das Rote Kornfeld“ 1988 den Goldenen Bären gewann. Ihn und das Filmfest derart zu düpieren, ist eine handfeste kulturpolitische Provokation. Doch die Festivalleitung beließ es bei einem dürren Einzeiler: Zhangs Film entfalle „aufgrund von technischen Problemen bei der Post-Production“. Die Streichung des chinesischen Jugendfilms „Better Days“ von Derek Kwok-cheung Tsang wenige Tage zuvor wurde gar völlig kommentarlos mitgeteilt.

 

Netflix-Protest ohne Reaktion

 

Ähnlich zugeknöpft reagierte das Festival auf den Protest von 180 deutschen Programmkinos gegen die Vorführung der Netflix-Produktion „Elisa y Marcela“ der Spanierin Isabel Coixet im Wettbewerb: Damit werde er vom Streaming-Dienst als Werbeplattform missbraucht. Es gab darauf keine offizielle Reaktion; Kosslick sagte nur in Interviews, er habe sich zusichern lassen, dass der Film in Spanien ins Kino kommen werde. Vermutlich so wie der Oscar-Favorit „Roma“ von Alfonso Cuarón: Der war Anfang Dezember ganze drei Tage lang in Berliner Kinos zu sehen.

Trailer des Siegerfilms "Synonymes" von Nadav Lapid. © Grandfilm


 

Goldener Bär für knackige Soldaten-Körper

 

Es brodelt also mächtig in der Branche, aber das größte Publikumsfestival der Welt, das sich stets als „politisches Festival“ verstanden hat, hält sich bedeckt: Man will es sich offenbar weder mit der Kinogroßmacht China noch den Internet-Giganten verscherzen. Ähnlich folgenlos pseudo-engagiert fiel die Preisvergabe aus: Den Goldenen Bären erhielt „Synonymes“ von Nadav Lapid über einen israelischen Ex-Rekruten, der durch Paris irrlichtert. Mit geteiltem Echo: Manche fanden den Episoden-Reigen peinlich voyeuristisch, anderen gefiel die physische Präsenz knackiger Soldaten-Körper.

 

Der Große Preis der Jury für „Grâce à Dieu“ („Gelobt sei Gott“) von François Ozon darf als Prozesshilfe gelten: Gegen dieses Drama über Kindermissbrauch durch französische Priester ziehen Betroffene vor Gericht. Der Silberne Bär für die beste Regie war dagegen ein Heimspiel der sperrig-hermetischen „Berliner Schule“: für „Ich war zuhause, aber…“ von Andrea Schanelec, ihre sprödeste Vertreterin. Als zweiter deutscher Bärengewinner bekam „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt den Alfred-Bauer-Preis „für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet“. Wohl in Sachen Lautstärke: Hauptfigur ist eine tobsüchtige Neunjährige.

 

Trostpreis für besten Wettbewerbsfilm

 

Es gibt aber auch Preisträger, die ganz altmodisch eine lineare Geschichte erzählen. Etwa „La paranza dei bambini“ über Teenager-Gangster in Neapel, prämiert für das beste Drehbuch; Ko-Autor Roberto Saviano hatte bereits die Vorlage für den Mafia-Schocker „Gomorra“ (2008) von Matteo Garrone geliefert. Oder „So Long, My Son“ von Wang Xiaoshuai: Sein wundervoll subtiles Drei-Stunden-Epos über zwei befreundete chinesische Familien seit den 1980er Jahren bis heute wurde von den meisten Kritikern als weitaus bester Wettbewerbsfilm bewertet. Da wirken die Silbernen Bären für die Hauptdarsteller Yong Mei und Wang Jingchun wie Trostpreise.

 

Ein Kessel Buntes also, wie gewohnt: Dieses Potpourri hat Dieter Kosslick zielstrebig angerührt. Sein leicht grantiger Vorgänger Moritz de Hadeln stand für eher kommerzfernes und kopflastiges Kunstkino, doch ab 2001 machte Kosslick die Berlinale zu einem Mega-Spektakel der Event-Gesellschaft. Indem er das Programm über alle Maßen aufblähte: Mittlerweile werden alljährlich etwa 330.000 Tickets für rund 400 Filme verkauft; auf 17 Sektionen verteilt, die sich wie durch Zellteilung vermehrt haben. Da ist für alle irgendetwas dabei, auch wenn jeder Überblick flöten geht.

 

Spielwiesen für alle Zielgruppen

 

Als Filmförderungs-Profi des Proporzdenkens gab Kosslick jeder Zielgruppe ihre Spielwiese. Für die Zweitverwertung glamouröser Großproduktionen, die dem Filmfest am roten Teppich Glanz verschaffen sollen, erfand er die Reihe „Berlinale Special“. Oder sie laufen als Zugpferde „außer Konkurrenz“ im Wettbewerb, wie in diesem Jahr „Vice – Der zweite Mann“ von Adam McKay. Das brillante Biopic über Dick Cheney, US-Vizepräsident unter (oder eher: über) George W. Bush kommt am Donnerstag regulär ins Kino; der Verleih nimmt die kostenlose Vorab-Reklame gerne mit.

 

Am anderen Ende der Hackordnung dürfen deutsche Filmhochschüler ihre Fingerübungen in der „Perspektive Deutsches Kino“ vorstellen – und 250 high potentials bei „Berlinale Talents“ mit Branchengrößen plaudern. Dessen Standort, das Theater „Hebbel am Ufer“, ist genauso fachfremd wie der für die Sektion „Forum Expanded“; ihr wilder Mix aus Film-Installationen ist in einem früheren Krematorium aufgebahrt. Eigens für diesen Anlass errichtet wird dagegen das „Gropius Bau Cinema“: Dort genießen betuchte Feinschmecker für 95 Euro erst „Kulinarisches Kino“ über nachhaltige Tafelfreuden – danach ein Sternekoch-Menü.

 

Exotische Archiv-Ausgrabungen

 

Das sind nur die auffälligsten Auswüchse, bei denen man sich fragt, was sie auf einer Kino-„Kulturveranstaltung des Bundes“ verloren haben. Auch die traditionellen Filmreihen sind mit informellen Subsektionen durchsetzt. Dem 1986 gegründeten „Panorama“ verliehen die langjährigen Leiter Manfred Salzgeber und Wieland Speck ein schwullesbisches Profil samt eigenem Preis, dem „Teddy Award“ – damals eine Pioniertat. 33 Jahre später gibt es weltweit zahlreiche Festivals für queere Filme: Warum müssen sie weiterhin ein Viertel bis Drittel des Panorama-Programms füllen?

 

Noch fragmentierter ist das seit 1971 bestehende „Forum“ als Sammelbecken für alles Mögliche. Etwa Archiv-Ausgrabungen aus entlegenen Weltgegenden: Hier liefen schon Stummfilm-Dokus aus der Westsahara oder Trash-Horror aus Kambodscha vor dem Terror der Roten Khmer. Diesmal gab es Material aus Afghanistan in den 1980er Jahren vor den Taliban zu bestaunen: Einblicke in eine verschwundene Welt oder abseitiges Augenpulver?

 

48 Seiten Gender-Evaluation

 

Mit dieser Zersplitterung des Sortiments machte sich Kosslick viele Freunde: Jeder darf seine Pfründe bewirtschaften. Kein Wunder, dass er zum Abschied allseits gepriesen wird, ob von Regisseuren, Schauspielern, Branchenvertretern oder Gremienhengsten: Wie hilfsbereit und entgegenkommend der Dieter doch immer ist, und dabei allzeit nett und gut gelaunt!

 

 

Lesen Sie hier eine Festival-Bilanz der 68. Berlinale 2018: "Behinderten-Sex im Bären-Portfolio"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 67. Berlinale 2017: "Expansionskurs in der Sackgasse"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 66. Berlinale 2016: "Wegen Überfüllung geschlossen"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 65. Berlinale 2015: “Jahres-Hauptversammlung der Berlinale AG”

 

und hier eine Festival-Bilanz der 64. Berlinale 2014: “Atmosphäre nur in der Warteschlange”.

 

 

Dass die Berlinale längst jedes inhaltliche Profil verloren hat, fällt dabei unter den Tisch; und ebenso, dass ihr vollmundiger Anspruch zur Phrasendrescherei verkommen ist. Als #MeToo-Gütesiegel weist sie in einem Bericht zur „Gender Evaluation“ auf 48 Seiten haarklein nach, wie die Geschlechter-Anteile in allen Abteilungen seit 1951 aussahen – aber wenn es filmpolitisch heikel wird, bleibt der Staatsbetrieb mit 26 Millionen Euro Budget schmallippig.

 

Reproduzierte Heuchelei

 

Wobei dieses Verhalten durchaus zur Gastgeber-Gesellschaft passt. In einem Land, das ständig die europäische Gemeinschaft beschwört, aber jeden Ansatz für einen EU-Haushalt blockiert. Das eine sentimentale Willkommenskultur pflegt, doch die Verantwortung für Immigranten auf Anrainerstaaten abschiebt. Das vom Euro am meisten profitiert, aber von seinen Exportüberschüssen nichts für Sozialtransfers abgeben will. Das sich als Friedensmacht aufplustert, aber Verteidigungsfähigkeit anderen NATO-Partnern überlässt.

 

Die politisch korrekte Heuchelei der „Internationalen Filmfestspiele“ reproduziert nur diejenige der Bundesrepublik insgesamt. Mit Dieter Kosslick als Angela Merkel des Festival-Zirkus, der seinen Riesen-Laden mit unverbindlich warmen Worten für jedermann zusammenhält. Er kam vier Jahre vor ihr ins Amt und tritt zwei Jahre früher ab: Man darf gespannt sein, ob das Nachfolger-Duo Carlo Chatrian, bislang Leiter der Festspiele in Locarno, und Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin die großkoalitionäre Berlinale-Stagnation aufbrechen kann.

 

Blechen oder Netflix glotzen

 

Damit das Publikum nicht weiter stets das Nachsehen hat: Es musste Kosslicks Expansionskurs mit ständig steigenden Ticketpreisen bezahlen. Jede reguläre Vorstellung kostet inzwischen 13 Euro – viel Geld für einen obskuren Autorenfilm im „Forum“. Doch Monopolisten reizen gern ihre Marktmacht aus: Mehr Kino-Remmidemmi als am Potsdamer Platz gibt es in Mitteleuropa nirgends. Wem das zu teuer ist, der kann ja für 7,99 Euro monatlich „Netflix“ glotzen.