Radu Jude

Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen

Für jeden toten Rumänen 200 Juden umbringen: Der Darsteller von Diktator Antonescu spricht zum Volk. Foto: © Grandfilm
(Kinostart: 30.5.) Vergangenheitsbewältigung in Rumänien: Eine Regisseurin will den Holocaust im Weltkrieg thematisieren – ihre Landsleute leugnen oder vertuschen. Trotz interessanter Details gerät der Film von Regisseur Radu Jude recht statisch und schematisch.

Was für ein Titel-Satz! Gesagt haben soll ihn Marschall Ion Antonescu (1882-1946). Er herrschte 1940 bis 1944 in Rumänien als faschistischer Militärdiktator; 1941 ließ er die rumänische Armee als Verbündete der Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschieren. Dabei wurden zwischen 280.000 und 380.000 rumänischer und ukrainischer Juden in das besetzte Gebiet Transnistrien deportiert und/oder ermordet.

 

Info

 

Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen

 

Regie: Radu Jude, 139 Min.,
Rumänien/ Bulgarien/ Deutschland 2018;

mit: Ioana Iacob, Alexandru Dabija, Alex Bogdan

 

Weitere Informationen

 

Als 1944 die Rote Armee nahte, wechselte Rumänien die Seiten: Antonescu wurde gestürzt, Bukarest erklärte NS-Deutschland den Krieg. Der Ex-Diktator wurde an die Sowjets ausgeliefert, kam 1946 zurück, wurde zum Tod verurteilt und hingerichtet. Seit dem Ende des Kommunismus wird er sehr ambivalent beurteilt: Offiziell bleibt er verpönt, doch etliche Gruppen treten für seine Rehabilitierung ein. Viele Gemeinden benennen nach ihm Straßen und Plätze, was in periodischen Abständen gesetzlich verboten wird. Bei Umfragen rühmt rund die Hälfte aller Rumänen Antonescu als „großen Patrioten und Strategen“.

 

Bedingt kinotaugliches Wissen

 

Dagegen tritt Mariana Marin (Ioana Iacob) an. Die junge Theaterregisseurin will durch ein großes Reenactment der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg ihren Mitbürgern plastisch vor Augen führen, dass Rumänien am Holocaust maßgeblich beteiligt war. Dafür hat Mariana stapelweise Fachliteratur gelesen; in jeder Debatte wartet sie mit präzisem Detailwissen auf. Was ihr in akademischen Seminaren glänzende Auftritte sichern würde, ist jedoch nur sehr bedingt kinotauglich.

Offizieller Filmtrailer


 

 

Bärengewinner kommt nie ins Kino

 

Radu Jude zählt zu den führenden Regisseuren des rumänischen Neorealismus, der seit mehr als zehn Jahren international stark beachtet wird. Er hat sich schon mehrfach historische Themen vorgenommen: In „Aferim!“ zeigte er fesselnd, wie – nun ja: barbarisch – rumänische Fürsten im 19. Jahrhundert mit ihren Leibeigenen umsprangen. Der Film wurde 2015 mit dem Silbernen Bären für die beste Regie prämiert, kam aber nie in deutsche Kinos.

 

Anders als Anfang 2017 „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“, obwohl diese Adaption eines autobiographischen Romans von 1937 über Leidensjahre im Schwarzmeer-Sanatorium ein sehr statisches Seherlebnis war. Auch beim neuen Film kommt Radu Jude mit wenig Aktion aus: Er legt ihn als eine Art Making Of zur Entstehung der Weltkriegs-Inszenierung an.

 

Geburtstagsparty mit Archivmaterial

 

Geduldig begleitet der Film Mariana, wenn sie Uniformen und Requisiten im Armeemuseum auswählt, Scharen von Komparsen einweist und üben lässt oder ausgiebig an Konzept und Sprechtext feilt. Wie es sich für eine engagierte Antifa-Aktivistin ziemt, will die Regisseurin das Grauen des Genozids möglichst anschaulich erlebbar machen. Mit diesem aufklärerischen Anspruch steht sie jedoch ziemlich alleine da, obwohl sie nichts unversucht lässt: Sogar auf ihrer Geburtstagsparty spielt sie ihren Mitstreitern altes Archivmaterial vor.

 

Offenbar wurde die Bühnenkünstlerin von der Stadtverwaltung beauftragt, einen zentralen Platz zu bespielen. Doch inzwischen ist man im Rathaus damit nicht glücklich: Der Emissär Movila (Alexandru Dabija) versucht wortreich, die Leiterin zu einem zahmeren Spektakel zu überreden.

 

Für Nationalismus + Chauvinismus

 

Movila ist in Geschichte ebenso beschlagen wie sie und tritt geschmeidig auf; weder leugnet er Fakten noch droht er mit Zensur. Er möchte nur erreichen, dass eine weichgespülte Version aufgeführt wird, die dem Nationalismus und Chauvinismus der Mehrheit schmeichelt – auf die sich die Stadtregierung stützt.

 

Deren Ressentiments breitet der Film genüsslich aus: in ellenlangen Wortwechseln, die Mariana mit ihren Handlangern und Movila führt; über den Kriegsverlauf, Opferzahlen und Einzelheiten des Massakers von Odessa 1941, auf das ihr Historien-Theater zusteuert.

 

O-Töne vor jeder Korrektheit

 

Das könnte durchaus interessant sein: nicht nur wegen mancher Einblicke in die kaum bekannte Geschichte Rumäniens, sondern auch wegen des unfrisierten, mit Zoten gespickten Vokabulars, das hierzulande nur noch als „Hate-Speech“ auf Facebook ein tristes Nischendasein fristet. Quasi als O-Töne von Volkes Stimme vor jeder politischen Korrektheit.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Scarred Hearts - Vernarbte Herzen" - Romanadaption des rumänischen Quasi-"Zauberberg" von Radu Jude

 

und hier eine Besprechung des Films "The Act of Killing" – fesselnde Doku von Joshua Oppenheimer über Reenactments der Massaker in Indonesien 1965, Europäischer Filmpreis 2013

 

und hier einen Bericht über den Film “Ehrenmedaille” – satirische Tragikomödie über Geschichtsklitterung in Rumänien von Peter Călin Netzer

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Blumen von gestern" - halsbrecherische Tragikomödie über NS-Zeit-Aufarbeitung von Chris Kraus.

 

Dafür müsste aber Regisseur Radu Jude abwechslungsreicher inszenieren. Doch er belässt Einstellungen meist in der Halbtotalen oder Totalen, während die Darsteller ungeschnitten ihre Zeilen aufsagen – bei Disputen zwischen Mariana und ihrem Rathaus-Aufpasser bis zu zehn Minuten lang.

 

Ausgeblendete Fascho-Verherrlichung

 

Oder sie liest via Skype ihrem Geliebten eine Erzählung des russischen Revolutions-Literaten Isaac Babel ungekürzt vor. Das finale Reenactment lichtet Jude schließlich eine halbe Stunde lang in Echtzeit ab. Verdichten liegt ihm sichtlich nicht; sein Film ließe sich um ein Drittel kürzen, ohne an Substanz einzubüßen.

 

Trotz seiner Ausführlichkeit blendet er aus, warum Mariana es so schwer hat – und ihre Landsleute die faschistische Epoche verherrlichen und damalige Verbrechen vertuschen oder kleinreden. Das 20. Jahrhundert verlief für Rumänien sehr wechselhaft: Nachdem es 1920 sein Territorium verdoppeln konnte, folgten ein instabiles Königreich, das Antonescu-Intermezzo und die Eingliederung in den Ostblock; die kommunistische Diktatur unter Gheorghiu-Dej und Ceaușescu war besonders ineffizient und grausam.

 

NS-Bewältigung durch WM-Titel

 

Für schlichte Gemüter sieht es rückblickend so aus, als habe Antonescu ihre Heimat zu unerreichter Blüte geführt; dass seine Macht auf tönernen Füßen stand, ignorieren sie. Wie die Massen andernorts, die immer noch Mussolini, Franco, Stalin, Peron und andere verblichene Potentaten anhimmeln, um ihr schäbiges Dasein mit der Illusion zu bemänteln, sie seien Nachfahren von Helden – mangels anderer Erfolge. Dafür fehlt im hiesigen Vaterland der Vergangenheitsbewältigung längst jedes Verständnis: Denn diese muss man sich emotional erst einmal leisten können – etwa durch den Stolz, Fußball- oder Exportweltmeister zu sein.