Ilker Çatak

Es gilt das gesprochene Wort

Marion (Anne Ratte-Polle) lernt Baran (Oğulcan Arman Uslu) während ihres Urlaubs in Griechenland kennen. Foto: X Verleih
(Kinostart: 1.8.) Gigolo punktet mit Ehrlichkeit: Regisseur Ilker Çatak erzählt nüchtern von der Scheinehe zwischen einem jungen türkischen Tellerwäscher und einer deutschen Pilotin. Daraus wird – für eine Weile – eine Liebe auf Augenhöhe.

Jetzt wäre eine zwischenmenschliche Geste angebracht, findet die Standesbeamtin. Und ahnt wohl, dass die Verbindung dieses neuvermählten Paares keine romantische ist – so ungelenk wie sich Marion (Anne Ratte-Polle) und Baran (Oğulcan Arman Uslu) auf die Wange küssen. Kennengelernt hat sich das ungleiche Paar am Strand von Marmaris in der Türkei: Die schroffe Pilotin machte dort einen Kurzurlaub, wo sich Baran als Tellerwäscher und Teilzeit-Gigolo durchschlägt.

 

Info

 

Es gilt das gesprochene Wort

 

Regie: Ilker Çatak,

120 Min., Deutschland 2019;

mit: Anne Ratte-Polle, Oğulcan Arman Uslu, Jörg Schüttauf

 

Website zum Film

 

Seinen Job sieht er als Sprungbrett nach Europa, wie viele junge Männer im Tourismusgewerbe. Nach einem gemeinsamen feuchtfröhlichen Abend erzählt er freimütig, dass er weg möchte; als Kurde sieht er für sich in Europa bessere Chancen als in der Türkei. Barans unverblümte Ehrlichkeit scheint Marion zu imponieren. Vielleicht möchte sie auch einfach etwas Gutes tun.

 

Bloß keinen Ärger!

 

Auf jeden Fall bietet sie ihm eine Heirat an: Drei Jahre muss er in Deutschland leben, bis sein Aufenthaltsstatus dauerhaft gesichert ist. Und bitteschön keinen Ärger! „No trouble, no police, no problems, understand?“ lautet ihr Mantra. Zunächst funktioniert das – bis echte Gefühle dazwischen kommen. Regisseur Ilker Çatak macht es sich und seinen Protagonisten nicht leicht. „Es gilt das gesprochene Wort“ ist ein spröder Film, so sachlich inszeniert wie der Titel es andeutet, der übrigens die standesamtliche Zeremonie zitiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Distanzierter Blick auf erstaunliche Liebe

 

An die Liebesgeschichte, die darin steckt, tastet man sich als Zuschauer so langsam heran, wie die Hauptfiguren zueinander finden. Die beiden wirken zunächst klischeehaft: hier die kühle, vorlaute Pilotin, da der hübsche, junge Loverboy. Ein Aspekt des Films ist die geschäftsmäßige Heiratsmigration, die ziemlich realistisch darstellt wird – auch wenn es etwas weltfremd wirkt, dass bei einer Ehe, die unter Verdacht des Scheins stehen muss, nie ein Beamter unangemeldet im angeblich gemeinsamen Haushalt auftaucht. Baran kann fast drei Jahre unentdeckt in einer eigenen Wohnung leben.

 

Çatak geht es in dem Film, für den er gemeinsam mit dem Jugendschriftsteller Nils Mohl auch das Drehbuch schrieb, aber sowieso um etwas anderes. Unterteilt in drei Kapitel – „Ich war“, „Ich bin“ und „Ich werde sein“ – beobachtet er kühl und distanziert über einen Zeitraum von gut drei Jahren, wie zwischen zwei Menschen eine wenig wahrscheinliche Liebe auf Augenhöhe entsteht.

 

Er schuftet, sie organisiert

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Es war einmal Indianerland" - Coming-of-Age-Story über jungen Boxer von Ilker Çatak

 

und hier einen Bericht über den Film "Mediterranea" – Drama über Krawalle gegen Immigranten in Süditalien von Jonas Carpignano

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Farbe des Ozeans" – intensives Flüchtlings-Drama auf Gran Canaria von Maggie Peren

 

und hier einen Beitrag über den Film "Seefeuer - Fuocoammare" - Doku über Flüchtlinge auf Lampedusa + Berlinale-Siegerfilm 2016 von Gianfranco Rosi.

 

Zwischen ihnen besteht ein erheblicher Altersunterschied, weshalb sich auch Marions Umfeld nur eine Zweckehe vorstellen kann. Doch Baran strahlt etwas aus, was Marion in ihrem Leben fehlt: Er ist grundehrlich und lebt im Einklang mit seinen Ambitionen und Gefühlen. Sie hat sich dagegen die Fassade der klugen, unnahbaren Frau aufgebaut – ein Selbstbild, das nach einer Brustkrebsdiagnose nicht mehr trägt. Ihren verheirateten Langzeitlover, den Musiker Raphael (Godehart Giese), hat sie deshalb schon verlassen.

 

Baran dagegen ist nach der Operation für sie da, teils aus Pflichtgefühl, teils aus echter Empathie – auch wenn sich wegen mangelnder Sprachkenntnisse kaum mitteilen kann. Das zu ändern, daran arbeitet er nach Kräften. Er rackert sich ab, obwohl die grauen Winter und die zurückhaltende Mentalität der Menschen es ihm schwer machen – auch, um unabhängig zu werden.  Marion tut währenddessen, worin sie gut ist: Sie besorgt Baran einen Job und eine Wohnung.

 

Verliebtheit sorgt für Farbe

 

Beinahe stereotypisch prallen in dieser Geschichte Temperamente und Kulturen aufeinander. Das wird nur am Rande thematisiert und schwingt doch stets mit. Nicht zuletzt, weil Baran sich mit Geschlechterverhältnissen arrangieren muss, die ihm fremd sind. Trotz allem sind die beiden für eine Weile im Einklang – nämlich, als sie nicht mehr vorgeben, jemand anderes zu sein: Marion muss nicht mehr die Einzelkämpferin geben und Baran nicht den Macho-Draufgänger.

 

Beide verlieben sich ineinander, was auch eine neue Bildsprache mit sich bringt. Die sonst eher statische Kamera entwickelt Dynamik, der Raum öffnet sich und Farben kehren ins Bild zurück. Bei diesem Aufatmen bleibt es jedoch nicht. Wie die Kapitelüberschriften bereits vorwegnehmen, gibt es kein „Wir“ in dieser Geschichte, sondern nur ein „Ich“: im Präteritum, Präsens und Futur. Das ist so konsequent wie realistisch umgesetzt.