Stuttgart

„… nur Papier, und doch die ganze Welt …“: 200 Jahre Graphische Sammlung

Teresa del Pò nach Giacomo del Po: Allegorie ("Momentaneum quod delectat, aeternum quod cruciat"), um 1700. Foto: Staatsgalerie Stuttgart
Weltkugel aus Papier: Stuttgarts Graphik-Sammlung ist eine der größten in Deutschland. Ihr 200-jähriges Jubiläum feiert sie mit einem Best-of aus ihrer Kollektion - eine Rundreise durch die Geschichte der Zeichenkunst in fünf Jahrhunderten.

Ein zum Ball zerknülltes Blatt Papier: Mit diesem Bild fasst die Graphische Sammlung der Staatsgalerie ihre Jubiläumsschau zum 200-jährigen Bestehen treffend zusammen. «… nur Papier, und doch die ganze Welt …» ist die Ausstellung betitelt. Diesen eher unbescheidenen Anspruch kann sie einlösen: 200 Spitzenwerke führen alle Weltteile der Graphik vor.

 

Königlicher Kupfer-Zusammenleger

 

Dabei schöpft die Staatsgalerie aus dem Vollen: Sie besitzt 400.000 Arbeiten von etwa 12.000 Künstlern aus fünf Jahrhunderten. Ihre Kollektion zählt damit zu den vier bedeutendsten in Deutschland. Das verdankt sie der Sammelleidenschaft ihres Gründers: König Friedrich I. erwarb 1809 auf einen Schlag 20.000 Blatt. Im Folgejahr bestellte er den Maler Eberhard Wächter zum ersten Konservator des „Königlichen Cabinetts der Kupferstiche und Handzeichnungen“.

 

Info

 

"... nur Papier, und doch die ganze Welt ...":  200 Jahre Graphische Sammlung

 

17.7.2010 - 1.11.2010
täglich außer montags 10 - 18 Uhr, dienstags und donnerstags bis 20 Uhr

in der Alten Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Straße 30 - 32, Stuttgart

 

Weitere Informationen

 

Wächter gewann dem Posten wenig ab: Er sei nur „königlicher Kupfer-Zusammenleger“. Seine heutige Nachfolgerin Alice Koegel hat ebenso Anlass zur Klage, aber aus anderen Gründen: Ihre gesamte Dienstzeit reiche nicht aus, um jedes Blatt der Sammlung wenigstens einmal anzusehen. Dennoch sind ihr und ihren Kolleginnen eine vorzügliche Auswahl gelungen: Die wichtigsten Techniken und Strömungen seit Mitte des 15. Jahrhunderts werden beispielhaft vorgestellt.

 

Kupferstiche von Renaissance-Meistern

 

Dabei beeindrucken besonders die großen Formate. Während sich kleine Arbeiten recht gut reproduzieren lassen, gehen bei größeren Blättern die Feinheiten im Druck verloren. Das wird schon bei Kupferstichen von Renaissance-Meistern deutlich. Die detailreichen Randzonen und Hintergründe der Stiche von Albrecht Dürer lassen sich nur am Original genau studieren.


Impressionen der Ausstellung


 

Dürer kopiert Hexe von Mantegna

 

Zugleich wird erkennbar, wie bereits damals europaweit sich bekannte Künstler gegenseitig beeinflussten. Das veranschaulicht die Schau, indem sie verwandte Arbeiten nebeneinander hängt. Eine Personifikation des Neides stellte Andrea Mantegna 1470 als alte Frau mit hängenden Brüsten dar. 30 Jahre darauf übernahm Dürer die gleiche Gestalt als Hexe.

 

Wiederum 20 Jahre später verwendete sie der Kupferstecher Marcantonio Raimondi für einen „Hexenzug“. Gegen Raimondi führte Dürer übrigens einen der ersten Urheberrechts-Prozesse der Geschichte: Er verklagte ihn, weil der Bologneser populäre Motive von Dürer kopiert hatte. Das Urteil: Raimondi durfte weiter abkupfern, nur ohne Dürers Monogramm.

 

Blütezeit im Barock + 19. Jahrhundert

 

Eine Blütezeit erlebten die graphischen Künste im Barock. Rembrandts „Hundertguldenblatt“ oder das monumentale „Jüngstes Gericht“, das Wendel Ditterlin 1590 schuf, waren komplexe Kompositionen, die an dramatischer Wirkung der Ölmalerei kaum nachstanden. Zugleich wurden die kleinen Formen verfeinert. Eine Rückenansicht in Rötel von Tiepolo oder lavierte Federzeichnungen von Annibale Caracci verströmen den Charme des Skizzenhaften.

 

Während das 18. Jahrhundert der Graphik kaum neue Ausdrucksformen erschloss, ändert sich das im 19. Jahrhundert. Die ersten fotografischen Verfahren waren Mischformen, weil die Prozedur so aufwändig und zeitraubend war. Zudem komponierte der Piktorialismus Bilder nach dem Vorbild der Malerei. Da lagen kreative Eingriffe nahe: Gustave LeGray erstellte regelrechte Foto-Collagen, indem er Abzüge von mehreren Negative kombinierte. So erinnert seine „Meereslandschaft mit Segelschiff“ an ein traditionelles Seestück.

 

Experimentierfeld der Avantgarde

 

Im 20. Jahrhundert wurde die Graphik zum Experimentierfeld der Avantgarden. Hier konnten neue Gestaltungsprinzipien leichter und radikaler ausprobiert werden als auf der Leinwand. Auch dazu zeigt die Ausstellung etliche herausragende Exemplare. Und zieht diese Linie bis in die Gegenwart: Trotz neuer Medien hat das Papier als künstlerisches Medium keineswegs ausgedient. Eine der jüngsten Arbeiten ist von Martin Creed. Sein „Work No. 88“ von 1995 besteht aus – einem zum Ball zerknüllten Blatt Papier.