Wolfsburg

Alberto Giacometti: Der Ursprung des Raumes – Retrospektive des reifen Werkes

Kleine Figur in einer Schachtel zwischen zwei Schachteln, die Häuser sind, 1950. © ADAGP / Succession Giacometti; Foto: Kunstmuseum Wolfsburg
Humanisierte Aliens im Licht-Dom: Alberto Giacometti war der Bildhauer des existentialistischen Menschenbildes. Nun kratzt das Kunstmuseum Wolfsburg die Patina von seinen spindeldürren Figuren – mit überraschendem Ergebnis.

Ein besserer Ort für Giacometti scheint kaum denkbar. Mit seiner riesigen Halle von 1600 Quadratmeter Fläche und 16 Metern Höhe, die an die Maschinen-Kathedralen des nahen Volkswagen-Werks erinnert, bietet das Kunstmuseum Wolfsburg den hoch strebenden Skulpturen reichlich Platz zur Entfaltung. Die Ausstellungs-Architektur verstärkt noch den Eindruck grenzenloser Weite und Leere.

 

Info

Alberto Giacometti:
Der Ursprung des Raumes -
Retrospektive des reifen Werkes

 

20.11.2010 - 06.03.2011
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr, dienstags bis 20 Uhr im Kunstmuseum, Hollerplatz 1, Wolfsburg

 

Katalog 38 €

 

Weitere Informationen

Lange Passagen in strahlendem Weiß münden in Kammern mit allseits abgerundeten Ecken. Sie erfüllt diffus blendendes Licht; die hier platzierten Plastiken scheinen frei im Raum zu schweben. So Ehrfurcht gebietend hat noch kein Kult seine Heiligtümer in Schreinen inszeniert. Selten stellt eine Kunstreligion ihren Ewigkeitsanspruch derart glaubwürdig dar.

 

In Bronze gegossener Existentialismus

 

Das passt zu einem Bildhauer, dessen Werke die Nachkriegszeit wie eine Offenbarung aufnahm. Nachdem Sartre ihm 1948 bescheinigt hatte, sie changierten «zwischen Erscheinungen und Entschwindungen», galten die dürren und deformierten Gestalten als in Bronze gegossener Existentialismus. Sie versinnbildlichten die Leere des Daseins, die Geworfenheit des Menschen und seine unaufhebbare Einsamkeit, hieß es.

 

Diese pathetische Patina will Kunstmuseums-Direktor Markus Brüderlin abkratzen. Zwar beschränkt er die erste deutsche Giacometti-Retrospektive seit zwölf Jahren auf sein «reifes Werk» ab 1940 bis zu seinem Tod 1966. Doch 60 geläufige Skulpturen werden durch 30 weniger bekannte Gemälde und acht Arbeiten der Gegenwartskunst ergänzt. Ab 12. Dezember kommt die Parallel-Ausstellung «Verortungen – Die Frage nach dem Raum in der zeitgenössischen Kunst» hinzu.

 

Programmatik in Paradoxien

 

Viel Beiwerk, um Brüderlins kühne These zu erhärten: Giacometti habe mit seiner Kunst als erster den euklidischen Raum radikal in Frage gestellt und ihr damit neue Räume eröffnet, bis hin zum virtuellen Raum des Cyberspace. Dafür bemüht er Giacomettis Aphorismen wie «Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen» – und übersieht, dass er seine Programmatik vorzugsweise in Paradoxien äußerte.

 

So notierte er: «Ich wollte Leere unter den Füßen der Figur» – und montierte sie auf massive Bronze-Sockel, deren Dimensionen alles Bekannte übertrafen. Oder er erklärte: «Ich weiß nur, dass ich versuchen muss, eine Nase nach der Natur zu kopieren» – und versah die gleichnamige Skulptur von 1947 mit einem meterlangen Gesichtserker. Man darf daher die Raum-Metaphysik des Kurators getrost ignorieren, um dennoch Bemerkenswertes zu entdecken.

 

Im Gesicht jeden Tag etwas Unbekanntes

 

Etwa die etwas willkürlich gehängten Gemälde, für die meist Giacomettis Bruder Diego und seine Frau Annette Modell saßen. Bei flüchtig skizzierten Körpern sind die Gesichter mehrfach übermalt und fast bis zur Unkenntlichkeit zerfurcht, als seien sie Versehrte von Francis Bacon.

 

Doch im Vergleich wird deutlich, dass Giacometti stets neue Züge und Einzelheiten festzuhalten suchte, um den je spezifischen Ausdruck zu konservieren: «Das große Abenteuer besteht darin, in ein und demselben Gesicht jeden Tag wieder etwas Unbekanntes hervortreten zu sehen; das ist großartiger als alle Reisen rund um die Welt.»

 

40 Jahre in 25-Quadratmeter-Atelier

 

Für diese Mikro-Beobachtungen schwärmte ein Stubenhocker: In seinem nur fünf Mal fünf Meter großen Atelier blieb er 40 Jahre lang. Aber dort variierte er sein schmales Repertoire stehender und schreitender Gestalten sowie verzerrter Büsten mit unendlicher Liebe zum Detail.

 

In der Schau in Reihen aufgestellt, wirken sie auf den ersten Blick monoton seriell. Dabei enthüllen sie bei näherem Hinsehen zahlreiche Nuancen, die ihnen Individualität verleihen – selbst die statuarischen Frauenfiguren, die von altägyptischen Reliefs inspiriert sind.

 

Falten-Landschaften menschlicher Haut

 

Giacomettis Skulpturen gelten als karg, schroff und abweisend. So erscheinen sie jedoch nur in der Vereinzelung und auf Distanz. Auf Tuchfühlung mit ihresgleichen gewinnen diese reduzierten Gebilde geradezu humane Qualitäten – ihre Erscheinung ähnelt den Falten-Landschaften menschlicher Haut unter der Lupe betrachtet. Allein für diese Humanisierung der großen Aliens der modernen Plastik lohnt die Ausstellung.