Stuttgart

Indiens Tibet – Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya

Akshobhya im Kloster Tabo (Detail): Stilistisch ist die Lehmfigur mit ihren dreifach-sichelförmigen Kronen, dem reichen Zierrat und den fein gestalteten Beinkleidern im besten kaschmirischen Stil des Jahres 1042 gefertigt. Foto: Peter van Ham
Das Linden-Museum in Stuttgart wird 100 Jahre alt. Im Jubiläumsjahr stellt es den Westhimalaya vor, wo sich die tibetische Kultur am besten erhalten hat - und die Polyandrie. Allerdings täte dem Haus eine Reinkarnation gut.

Das wahre Tibet liegt in Indien. Nicht erst seit 1959, als der Dalai Lama und seine Anhänger in Scharen vor der chinesischen Besatzungsmacht im tibetischen Kernland flohen. Seit mehr als 1000 Jahren ist der Westhimalaya, der heute zu den indischen Bundesstaaten Himachal Pradesh sowie Jammu und Kaschmir gehört, ein Zentrum der tibetischen Kultur.

 

Info

 

Indiens Tibet - Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya

 

23.10.2010 - 01.05.2011
täglich außer montags 10 - 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, sonntags bis 18 Uhr im Linden-Museum, Hegelplatz 1, Stuttgart

 

Begleitband 29,90 €,
im Handel 45 €:

 

Weitere Informationen

 

Hier sind ihre Zeugnisse am besten erhalten. Während die chinesischen Invasoren in Zentral-Tibet Tausende von Klöstern, Tempeln und Kunstwerken zerstörten, blieben sie in Indien unbehelligt. Dazu trugen auch ungelöste Grenzkonflikte im Dreiländereck von Pakistan, Indien und China bei: Weite Teile des Westhimalaya waren Jahrzehnte lang für Ausländer gesperrt.

 

Harrer war Lehrer des Dalai Lama

 

Zuvor hatten nur wenige Europäer die schwer zugängliche Region bereist. Einer von ihnen war der Missionar und Archäologe August Hermann Francke, der 1909 die bizarre Bergwelt und ihre Bewohner beschrieb und fotografierte. Berühmt wurde der Bergsteiger Heinrich Harrer, der unfreiwillig zum Tibet-Kenner aufstieg: 1944 von den Briten interniert, floh er in Tibets Hauptstadt Lhasa und wurde Lehrer und Berater des Dalai Lama. Mitte der 1970er Jahre kehrte er in die Region zurück.

Impressionen der Ausstellung


 

 Dutzende von Sprachen in unwegsamer Region

 

Seit Anfang der 1990er Jahre sind die Grenzgebiete Nordindiens für Fremde zugänglich. Der Fotograf und Autor Peter van Ham hat seither den Westhimalaya intensiv bereist und seinen aktuellen Zustand dokumentiert – er regte auch diese Ausstellung an. Sie folgt den Routen der drei Pioniere durch acht Gegenden: Kinnaur, Spiti, Lahaul, Zanskar, Rupshu, Ladakh, Nubra und Dah-Hanu.

 

So nah beieinander diese Landstriche liegen – das gesamte Gebiet misst weniger als 500 Kilometer in Nord-Süd- und 300 in Ost-West-Richtung –, so unterschiedlich sind sie: Durch kaum passierbare Bergketten voneinander getrennt, leben in engen Flusstälern lauter verschiedene Völker, die Dutzende von Sprachen mit Hunderten von Dialekten sprechen.

 

Ethnien mit wenigen Tausend Köpfen

 

Ihre Ressourcen sind extrem knapp. Das meiste Land ist steinig und öde, Feldfrüchte wachsen nur auf kleinen Flächen. Um Überbevölkerung zu verhindern, müssen viele Menschen zölibatär leben – in Spiti ist jeder achte Bewohner Mönch oder Nonne. Die übrigen praktizieren Polyandrie: Eine Frau heiratet mehrere Männer, meist Brüder.

 

Manche Ethnien zählen nur wenige Tausend Köpfe; etwa die Minaro in Dah-Hanu, die Nachkommen der Darden sind. Dieses indo-arische Volk siedelte in der Antike im riesigen Raum zwischen Kaukasus und Nordindien. Sie werden von Herodot und Alexander dem Großen ebenso erwähnt wie in der klassischen indischen Literatur.

 

Einflüsse aus Indien und Zentral-Tibet

 

Die Minaro sehen wie Südeuropäer oder Roma aus. Ihre Religion und Kultur sind bis heute animistisch-schamanistisch; sie verehren Steinböcke als heilige Tiere und teilen die Welt in verschiedene Reinheits-Zonen ein. Die Gipfelzonen sind als Wohnsitze der Götter am reinsten, die Flusstäler am unreinsten. Wer von dort in die Dörfer aufsteigt, muss sich aufwändigen Reinigungs-Ritualen unterziehen.

 

Die meisten Einwohner des Gebiets zählen jedoch zu den tibetischen Volksgruppen. Sie bekennen sich zum Buddhismus, seit der «Großen Übersetzer» Rinchen Zangpo um das Jahr 1000 wirkte. Der Beiname des Religionslehrers verweist auf die Eigenart der Region: Hier vermischten sich Jahrhunderte lang Einflüsse aus Indien und Zentral-Tibet.

 

Anleihen bei graeco-indischer Gandhara-Kultur

 

Zunächst pilgerten tibetische Gelehrte nach Indien, um die Lehren des Buddhismus zu studieren. Später wurden heilige Texte aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt. So blieben sie erhalten, während sie in Indien unter der Herrschaft muslimischer Eroberer verloren gingen.

 

Auch die Kunst in den großen Klöstern wie Alchi in Ladakh und Tabo in Spiti spiegelt diesen beständigen Austausch. Frühe Werke sind im eleganten, sinnlichen Stil der Malerei aus Kaschmir gehalten. Manche Details, etwa geschwungen fließende Gewänder, zeigen sogar Anleihen bei der Kultur der damaligen graeco-indischen Reiche in Afghanistan und Gandhara, dem heutigen Nordpakistan.

 

Kopfbedeckungen mit Türkisen, Korallen + Silber

 

Danach überwiegen Einflüsse aus Zentral-Tibet und Nepal: Die Gestalten sind monumentaler, die Gesichter herzförmig mit geschwungenen Augenlidern und hoch drapierten Frisuren. Während sich die tibetische Sakral-Kunst in der Neuzeit stilistisch vereinheitlicht, bleibt die Volkskunst faszinierend vielfältig.

 

Überall im Westhimalaya schmücken sich Frauen mit einer Kopfbedeckung, die Perag genannt wird: ein breiter, gefütterter Stoff-Streifen, der mit Türkisen, Korallen und Silber besetzt ist. So trägt die Besitzerin ihren Reichtum auf dem Haupt spazieren. Prachtvolle Perags sind im Linden-Museum ebenso zu sehen wie reich verzierte Festtags-Gewänder.

 

Hängebrücke imitiert fremdartige Lebenswelt

 

Die Ausstellung lässt den Besucher auf zwei Ebenen durch diese entlegene Gebirgslandschaft wandern. Wandfüllende Fototapeten und Dia-Projektionen mit historischen und zeitgenössischen Aufnahmen machen die ungeheuren Dimensionen wie die Kargheit dieser Bergwüsten anschaulich. Sie haben sich in den vergangenen 100 Jahren kaum verändert.

 

Windgeräusche, schmale Pfade entlang der Vitrinen und sogar eine Hängebrücke imitieren geglückt diese fremdartige Lebenswelt. Auch die gezeigten Kunstwerke aus den reichen Beständen des Linden-Museums plus Leihgaben sind exquisit: Nur wenige Häuser weltweit verfügen über derart erstklassige Stücke.

 

Stehen gebliebene Zeit in ständiger Ausstellung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier einen Beitrag über die Ausstellung "Gandhāra" über die antike graeco-buddhistische Mischkultur im heutigen Afghanistan im Museum DKM, Duisburg

 

und hier eine Rezension des Dokumentar-Films "My Reincarnation – Wiederkehr" von Jennifer Fox über den Sohn eines tibetischen Dzogchen-Lehrmeisters.

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Mythos Goldenes Dreieck” über buddhistische Berg-Völker in Südostasien im Ethnologischen Museum, Berlin.

 

Doch die Freude an der Inszenierung überwiegt die an der Aufbereitung. Während die einzelnen Gegenden und ihre Besonderheiten ausführlich vorgestellt werden, bleiben die Auskünfte zur Entwicklung der tibetischen Kunst und ihren wechselnden Einflüssen kurz. Näheres erfährt man aus dem hervorragenden Begleitband, der jedes Werk eingehend kommentiert.

 

Damit folgt die Sonderschau dem Präsentations-Stil, der in der ständigen Ausstellung des Museums waltet. Hier scheint seit drei Jahrzehnten ebenfalls die Zeit stehen geblieben zu sein. Lange Erklärtexte auf Schautafeln sind sachlich korrekt, aber schwerfällig formuliert wie Soziologen-Studien aus den 1970er Jahren.

 

Aufklärung über Kolonialismus-Übel

 

Daneben liegen die Exponate so lieblos ausgebreitet, als dienten sie nur zur Illustration der Belehrungen. Ihre ästhetischen Qualitäten werden kaum gewürdigt. Offenbar ging es den Kuratoren allein um volkspädagogische Aufklärung über die Übel des (Neo-)Kolonialismus.

 

Zum 100. Geburtstag sollte sich das Linden-Museum eine Generalüberholung gönnen. Ein Lifting reicht da nicht; eine Reinkarnation auf dem aktuellen Stand der Museumsdidaktik müsste schon drin sein. Damit die fabelhafte Sammlung des Hauses nicht genauso von der Außenwelt vernachlässigt wird wie die Völker des Westhimalaya.