Berlin

Nadav Kander: Yangtze – The Long River & Robert Polidori: Pripyat and Chernobyl

Ästhetiken der Katastrophe: Die Galerie Camerawork in Berlin zeigt Robert Polidoris Fotografien vom Leben nach dem Super-GAU in Tschernobyl und die Jangtse-Dokumentation von Nadav Kander - Bilder von trauriger Aktualität.

Zweierlei Weltuntergang: Robert Polidori dokumentiert eine Katastrophe, die sich bereits ereignet hat – Nadav Kander eine, die noch bevorsteht. Welche von beiden mehr Menschenleben zerstören wird, ist ungewiss.

 

Info

 

Nadav Kander: Yangtze - The Long River & Robert Polidori: Pripyat and Chernobyl

 

22.01.2011 - 27.03.2011
dienstags bis samstags 11 bis 18 Uhr in der Galerie Camerawork, Kantstraße 149, Berlin

 

Der fotografische Kosmos von Polidori ist schon menschenleer. Der Kanadier hat sich auf Interieurs spezialisiert, die er nach klassischen Regeln mit Zentralperspektive, Sichtachsen usw. komponiert. Eher romantisch sind auf seinen Bildern die allgegenwärtigen Spuren des Verfalls: Polidori lichtet mit Vorliebe verlassene und ruinierte Räume ab.

 

Blick hinter die Kulissen

 

Das hat oft den Charme eines Blicks hinter die Kulissen; etwa in seiner Bilderserie über das Schloss von Versailles während Renovierungsarbeiten. Oder seiner Foto-Reportage über öffentliche Gebäude und Privatwohnungen in La Havanna. In beiden Fällen werden die Räume jedoch weiter genutzt – bei seinen Aufnahmen aus der Ukraine ist das anders.

 

Ansichten einer Geisterstadt

 

Polidori reiste 2001 nach Pripjat: der Arbeiterstadt, in der das Personal für das Kraftwerk von Tschernobyl wohnte. Sie wurde am 28. April 1986 evakuiert – zwei Tage nach der Explosion des Reaktors im Block IV. Bis heute ist sie Sperrzone und darf nur in Schutzkleidung kurz betreten werden – auch wenn Einzelne das unterlaufen und dauerhaft zurückkehren.

 

Die Bilder von Polidori zeigen eine Geisterstadt: leere Gebäude voller Unrat mit aufgerissenen Dächern und abblätterndem Putz. Radioaktivität verursachte keine dieser Schäden – sie sind Folge von Plünderung, Vandalismus und Witterung. Manche Details irritieren durch ihre Absurdität.

 

Gasmasken in der Cafeteria

 

In einem Saal, der die Cafeteria einer Schule sein soll, obwohl er eher einem Umkleide-Raum ähnelt, liegt ein Haufen verstaubter Gasmasken. In der Bibliothek wurden alle Bücher aus den Regalen gerissen. Auf einer Schultafel steht geschrieben: „Keine Rückkehr. Lebewohl, Pripjat! 28. April 1986“. Letzter Gruß eines Schülers, oder spätere, melodramatische Zutat?

 

Lebende Menschen finden sich nur noch im Kraftwerk selbst: Der Block III blieb bis Dezember 2000 in Betrieb. Um ihn zu bedienen, wurden Fachleute auf einer neu angelegten Schnellbahn herangekarrt. Ihre Kontrollraum ist baugleich mit dem von Block IV, den Polidori ebenso ablichtete: Schlieren aus rotem Plastik überziehen geborstene Anzeigetafeln und zerfallene Regler-Pulte.

 

Die am schnellsten wachsende Stadt der Welt

 

Nadav Kander dagegen nimmt stets Personen auf: als Staffage-Figuren, die winzig klein im Vordergrund verdeutlichen, wie riesig die sie umgebende Architektur ist. Von 2005 bis 2007 reiste der Israeli entlang des Jangtse und besuchte dabei 186 Städte. Der Gelbe Fluss ist die Lebensader des Landes; an seinen Ufern leben mehr Menschen als in den USA. Dort zeigen sich wie nirgends sonst die Auswirkungen von Chinas stürmischem Wirtschaftsaufschwung.

 

Brücken queren in Schwindel erregender Höhe den Fluss. Fabriken und Industrieanlagen en masse säumen seine Ufer. In der mittelchinesischen Metropole Chongqing, angeblich die derzeit am schnellsten wachsende Stadt der Welt, schießen Hochstraßen und Wolkenkratzer aus dem Boden. Die Skyline erinnert an Manhattan – inklusive Empire State Building.

 

Sonntags-Picknick unter Brücken-Pfeilern

 

Dazwischen richten sich die Leute ein, so gut es geht, wie Insekten in Bodenritzen. Ein Sonntags-Picknick wird unter Brückenpfeiler abgehalten, Angler treffen sich auf Hafen-Kais mit dem Reiz von Parkhäusern. Es scheint, als hätten die Erbauer dieser Beton-Kolosse alles darauf angelegt, die Bewohner zu demütigen – oder, noch schlimmer, keinen Gedanken an sie verschwendet.

 

Sie hausen in einer sonnenlosen Welt: Auf Kanders Bildern herrscht stets neblig-trübes, diffuses Licht. Die Unwirtlichkeit der Erde erreicht hier eine neue Qualität. Hingegen sprießt auf Polidoris Bildern üppiges Grün – die Natur erobert das vom Menschen aufgegebene Terrain zurück. So ergänzen sich beide Bilderserien hervorragend: als Aufnahmen verschiedener Momente im Kreislauf der von Menschenhand ausgelösten Katastrophen.