Bremen

Freibeuter der Utopie

Gavin Turk: Che (Detail), 1999, Sammlung Falckenberg, Hamburg. Foto: Björn Behrens
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit: Die Weserburg in Bremen will klären, ob Kunst unser Dasein verbessern kann. Ein nostalgischer Rückblick auf tote Führungsfiguren der 1970/80er Jahre – Lebende haben wenig zu sagen.

Wichtiger und interessanter kann eine Ausstellung eigentlich kaum sein. In einer Kunstwelt, der es vor allem um Markterschließung und –sättigung geht, in der Allianzen geschmiedet und Ableger eröffnet werden, um jeden Abnehmer weltweit mit dem eigenen Produkt-Portfolio zu beglücken – in der, mit einem Wort, die Kunst dem Diktat der Ökonomie folgt, macht sich die Weserburg Gedanken um das große Ganze.

 

Info

 

Freibeuter der Utopie - Die Kunst der Weltverbesserung

 

05.02.2011 - 25.04.2011
täglich außer montags 10 - 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr, am Wochenende ab 11 Uhr in der Weserburg - Museum für moderne Kunst, Teerhofstraße 20, Bremen

 

Weitere Informationen

 

Das Stiftungsmuseum wird 20 Jahre alt. Ein guter Zeitpunkt für solche Selbstvergewisserung: Man ist volljährig, verlässt das behütete Elternhaus und stellt sich den Fährnissen des Daseins. Dazu will Kurator und Weserburg-Direktor Carsten Ahrens «künstlerische Denkanstöße zur Veränderbarkeit von Welt und Gesellschaft» liefern. Da ist er nicht der Erste.

 

20. Jahrhundert des Utopismus

 

Alle Avantgarden der klassischen Moderne hatten die Utopie auf ihre Fahnen geschrieben. Angefangen mit dem Futurismus postulierte jede den Aufbruch in das ganz Andere: Der ersehnte Nicht-Ort, an dem sämtliche Widersprüche aufgehoben und Konflikte versöhnt seien, sollte mit einer nie gesehenen Ästhetik erreicht werden. Insofern ist die Kunsthistorie des 20. Jahrhunderts eine Geschichte des Utopismus.

Impressionen der Ausstellung


 

Engagierte Kunst ist seit jeher politisch

 

Aber nicht die Künstler machten Ernst mit ihren Visionen, sondern die totalitären Regime. Kommunisten und Faschisten probten das allumfassende Menschheits-Experiment – allerdings mit konventioneller bis reaktionärer Kunst und zahllosen Opfern. Welche Vordenker-Rolle die Avantgardisten für Terror-Apparatschiks spielten, ist mittlerweile gut erforscht; Boris Groys sprach vom «Gesamtkunstwerk Stalin». Die Bremer Schau ignoriert das souverän.

 

Natürlich geht es hier nicht um eine Abrechnung mit den Utopisten, sondern um ihre Ehrenrettung. Doch obwohl Utopie zunächst ein räumlicher, kein zeitlicher Begriff ist, kann man nicht völlig geschichtsblind mit ihm umgehen: Wer von ihr reden will, darf von Politik nicht schweigen. Engagierte Kunst war und ist seit jeher eminent politisch; ohne konkrete Nennung, was genau von wem gefordert wird, wäre sie völlig sinnlos. Sie darf aufrütteln, anklagen und schmähen, nur eines nicht: wolkig daherschwadronieren.

 

Kunst befreit uns von gar nichts

 

Das geschieht jedoch in der Weserburg: Die Ausstellung hat mit vielen Worten nichts zu sagen. Genauer: Sie widerspricht sich ständig selbst. Wie zum Auftakt die Video-Installation von Bruce Nauman: «eat me/ feed me, anthropology; hurt me/ help me sociology», schreit sein Glatzkopf unablässig. Passend dazu sein Zitat an der Wand: «Mit Erlösung hat meine Kunst wenig zu tun. Die Kunst befreit uns von gar nichts».

 

Es folgen diverse Dementis der üblichen Verdächtigen aus den 1970/80er Jahren, als das Theoretisieren noch geholfen hat. Die süffigen Paradoxien von Heiner Müller, der in Dramen von Shakespeareschem Format die Revolution als schon immer verraten und verkauft darstellte. Das Beserkertum von Einar Schleef, der mit Inszenierungen von antiker Wucht persönliche Versehrungen und das Blutbad der Geschichte kurzschloss.

 

Totaler Anspruch, libertäre Praxis

 

Selbstredend auch Joseph Beuys, der mit seinen Maximen von der «sozialen Plastik» und «Jeder Mensch ist ein Künstler» zwei bundesdeutsche Dekaden mit prägte. Im Anspruch total, in der Praxis libertär, wollte er tatsächlich die Gesellschaft umgestalten. Seine possierlichen Methoden werden noch einmal vorgezeigt. Etwa eine Plastiktüte, auf der in Rot die Argumente für sein «Nein zur Parteiendiktatur», in Grün für ein «Ja zur direkten Demokratie» aufgelistet sind.

 

Volkshochschul-Lehrer bewirken mehr

 

Oder seine Antwort auf den RAF-Terrorismus: «Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta (sic!) V» schrieb er 1972 auf Spruchtafeln, die in Filzlatschen stecken. Sie stehen direkt vor der Wand – ein Gespür für die Unzulänglichkeit seiner Mittel kann man Beuys nicht absprechen. Einsicht in die Komplexität der selbst gestellten Aufgabe hingegen schon; als Volkshochschulen-Lehrer hätte er vermutlich mehr bewirkt.

 

Im Defilee der teuren Toten darf auch Andy Warhol nicht fehlen. Sein Beitrag zur Utopie-Debatte beschränkte sich indes darauf, alles Bestehende für großartig und alle Probleme für gelöst zu erklären. Damit wurde er zum Ahnherr für Heerscharen ironischer Konsumkritiker, deren Artefakte den Vorzug haben, gut verkäuflich zu sein – eine Prise Radikalismus pfeffert die Preise.

 

CNN ist abwechslungsreicher

 

Wie Che Guevara, den Gavin Turk als Wachsfigur aufs Podest stellt: schöner als ein T-Shirt, aber auch kostspieliger. Oder die Provo-Parolen à la «Macht ohne Ideologie ist Kunst», mit denen Jonathan Meese seine Massenproduktion bepinselt. Oder die Spiegelwand mit Einschusslöchern, die Astrid Klein verständlicherweise «ohne Titel» belässt: Jede Festlegung könnte potentielle Käufer abschrecken.

 

Oder die Video-Installation von Artur Żmijewski, bei der israelische Demonstranten, Bürgerkrieg spielende Halbstarke und polnische Rechtsaußen-Katholiken in bunter Folge zu sehen sind. Sehr aktuell, nur ist das Programm von CNN abwechslungsreicher. Diese dürftigen Reminiszenzen reichen an die weit gespannten Entwürfe der Altvorderen nicht heran. Sind also in der zeitgenössischen Kunst die Utopien ausgestorben?

 

Kunst in der sozialdemokratischen Phase

 

Das wäre ein Trugschluss. Im Gegenteil: Nie gab es mehr engagierte Kunst als heute – allein schon deshalb, weil es so viele Künstler gibt. Nie wurde mit künstlerischen Mitteln so viel Elend angeprangert, Missstände dokumentiert und Abhilfe angeregt. Bloß schlagen diese Arbeiten nicht den hohen Ton der Nachkriegszeit an, mit dem das schlechte Bestehende verworfen und Erlösung erfleht wurde.

 

Marxistisch gesprochen: Die Kunst hat ihre kleinbürgerlich anarchistische Phase überwunden und ist in ihre sozialdemokratische Phase eingetreten. Sie will mit Reformen zur Lösung konkreter Probleme beitragen. Ob ihr das gelingt, ist fraglich – ein Beitrag zur Weltverbesserung bleibt es allemal. Und ein Festhalten an Utopien: mit hochgesteckten Zielen wie der Ausrottung von Armut, Krieg und Gewalt.

 

Besser scheitern

 

Das springt jedem beim Besuch der erstbesten Galerie ins Auge. Nur wer an den Hausheiligen der Intelligenzija im 20. Jahrhundert festhält, kann das nicht sehen. Das lässt sich ändern: Die Idee ist gut, doch die Weserburg noch nicht bereit. Aber sie kann im nächsten Anlauf eine echte Bestandsaufnahme engagierter Gegenwartskunst wagen. Mit dem Beckett-Motto, das sie schon jetzt zitiert: «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.»