Fotografie als Sprachersatz: Mit seiner einzigartigen Bildsprache, die sich keinem Stil zuordnen lässt, hat André Kertész das Medium entscheidend geprägt. Nun zeigt der Martin-Gropius-Bau seine erste Retrospektive in Deutschland.
Er hat Brassaï das Fotografieren beigebracht und Cartier-Bresson stark beeinflusst. Manche seiner Aufnahmen – etwa der «Schwimmer unter Wasser» von 1917 oder «Die Gabel» von 1928 – sind Ikonen der Moderne. Seine Werkschauen ziehen in Frankreich Hunderttausende von Besuchern an. Doch hier zu Lande ist André Kertész einem größeren Publikum wenig bekannt. Das will der Martin-Gropius-Bau ändern: Er richtet ihm die erste Retrospektive in Deutschland aus.
André Kertész – Fotografien
11.06.2011 – 11.09.2011
täglich außer dienstags 10 – 20 Uhr im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Berlin
Katalog in der Ausstellung 25 €, im Buchhandel 49,80 €
Unvermögen und Unwillen, sich zu vermarkten, prägten seine gesamte Laufbahn. Als Andor Kertész kam er 1894 in Budapest in einer bürgerlich-jüdischen Familie zur Welt; sein Vater war Buchhändler. Von Kindesbeinen an soll er unsicher, zögerlich und wortkarg gewesen sein. Obwohl er zwei Drittel seines Lebens im Exil verbrachte, beherrschte er kaum Fremdsprachen. «Nach 26 Jahren in Amerika war er von Pidginfranzösisch zu gebrochenem Englisch fortgeschritten», beobachtete ein Journalist, der ihn 1963 interviewte.
Impressionen der Ausstellung
Stattdessen begeisterte er sich früh für die Fotografie. Mit 17 Jahren bekam er seine erste Kamera und begann, dauernd zu knipsen. In diesen Aufnahmen teilte er sich mit. «Ich habe nie einfach ‚Fotos gemacht’. Ich drücke mich durch die Fotografie aus», erklärte Kertész: «Ich interpretiere, was ich in einem bestimmten Augenblick empfinde. Nicht was ich sehe, sondern was ich empfinde.»
Fotoexperimente im Ersten Weltkrieg
Anfangs ist das schlichte Sympathie für seine Mitmenschen: Bilder von der Familie und Freunden, die von großer Zuneigung geprägt sind. Auch das Soldatenleben im Ersten Weltkrieg – Kertész diente von 1914 bis 1918 – zeigt er gleichsam aus privater Sicht: Alltags-Szenen, keine Kriegsgräuel. Daneben entstehen bei Heimaturlauben gemeinsam mit seinem Bruder Jenö experimentelle Aufnahmen, die später seinen Ruhm begründen werden: etwa der «Schwimmer» von 1917, dessen Silhouette sich in Wellen und Lichtreflexen auflöst.
Da er in der Nachkriegszeit vom Fotografieren nicht leben kann, emigriert er 1925 nach Paris und ändert seinen Vornamen in André. Dort erhält er allmählich Zugang zu Künstlerkreisen und größere Aufträge. Ab 1928 beliefert er regelmäßig das Wochenblatt «VU»; es schätzt seine originelle Bildsprache. Kertész streift unablässig durch die Stadt und hält außergewöhnliche Momente, Perspektiven und Konstellationen im Bild fest.
Schatten als Stellvertreter
Etwa einen Haufen Ziegelsteine, deren Lochmuster mit dem Raster des Eiffelturms im Hintergrund korrespondieren. Oder zwei Paare Passanten, die so über die verregnete Place de la Concorde gehen, als tanzten sie mit ihren Schatten. Ohnehin spielen Schatten eine überragende Rolle in Kertész Œuvre: Als gleichwertige Stellvertreter von Personen und Objekten bringen sie deren Wesen zum Ausdruck. Auch «Die Gabel» gewinnt Plastizität nur durch ihren Schatten.
Bald stellen sich Erfolge ein: Kertész nimmt an Ausstellungen teil, gewinnt Preise und veröffentlicht Bücher. Dennoch werden Aufträge wegen seiner eigenwilligen Arbeitsweise rar. Daher wandert er mit seiner Frau Elisabeth 1936 in die USA aus und heuert bei der Bildagentur Keystone an, wirft aber nach kurzer Zeit hin. Es folgen dürre Jahre; Kertész fühlt sich unverstanden und isoliert. Ausdruck seiner Frustration sind Aufnahmen wie «Die verlorene Wolke» von 1937: ein winziges Wölkchen, eingeklemmt zwischen Wolkenkratzern.
«Sklavenarbeit» für House and Garden
Seinen Brotjob für die Zeitschrift «House and Garden», in deren Auftrag er 14 Jahre lang Interieurs der Reichen und Schönen ablichtet, bezeichnet er später als «Sklavenarbeit». Als er 1961 in den Ruhestand geht, interessiert sich plötzlich wieder die Kunstwelt für ihn. Kertész nimmt an der Biennale teil, erhält sein 1936 in Paris verbliebenes Negativ-Archiv zurück und wird mit einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art geehrt. Bis zu seinem Tod 1985 folgen zahlreiche Ausstellungen in vielen Ländern – bis auf Deutschland.
Lesen Sie hier eine Rezension der Fotografie-Ausstellung „Brassaï Brassaï. Im Atelier + Auf der Straße“ im Museum Berggruen und der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin.
Das holt nun der Gropius-Bau nach. Seine Übernahme aus dem Jeu de Paume in Paris ist eine mustergültige Werkschau, die mit 300 Arbeiten sämtliche Schaffensphasen dokumentiert. Beginnend mit Kontaktabzügen aus Kertész´ Soldatenzeit – für die man allerdings eine Lupe braucht – und ersten Experimenten, deren Kühnheit noch heute erstaunt, über die großen Foto-Reportagen aus den 1920/30er Jahren bis zum amerikanischen Spätwerk ist alles in erstklassiger Qualität vertreten.
Kein Markenzeichen
Das Markenzeichen seiner Fotografie ist, dass sie kein Markenzeichen hat. Kertész lässt sich keiner Strömung, keinem Stil zuordnen. Jede Aufnahme besticht durch ihre einzigartige Bildlösung für das Sujet – und man sollte sich Zeit nehmen, ihren Aufbau zu entschlüsseln. Denn die subjektiven, empfindsamen Fotos des Exil-Ungarn regen, wie Roland Barthes 1979 bemerkte, «zum Denken an».
Von Oliver Heilwagen, veröffentlicht am 12.06.2011
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