
Das Thema ist so überlebenswichtig wie eigentlich unverfilmbar: Die Finanzkrise von 2008 hat die Welt stärker erschüttert als jedes andere Ereignis seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Und ihre Auswirkungen werden das Leben noch prägen, wenn der Name Osama bin Laden schon halb vergessen ist.
Info
Der große Crash -
Margin Call
Regie: JC Chandor,
USA 2010; 105 min.;
mit: Kevin Spacey, Jeremy Irons, Demi Moore
Katastrophe als Kammerspiel
Jung-Regisseur JC Chandor gelingt das mit einem brillanten Kunstgriff: Er verwandelt die Katastrophe in ein Kammerspiel. Es beginnt ganz harmlos mit einer kleinen Entlassungswelle. In einer Investment-Bank richtet die Personalabteilung zur Kostensenkung ein «Blutbad» an.
Gefeuert wird auch Risiko-Analyst Eric Dale: Im Aufzug steckt er einen USB-Stick mit brisanten Berechnungen seinem Schützling Peter Sullivan (Zachary Quinto) zu. Dales letztes Lebenszeichen in der Finanzwelt: Schon am Ausgang ist sein Handy abgeschaltet.
Offizieller Film-Trailer
Lange Nacht der Krisen-Sitzungen
Sullivan macht Überstunden, um die Daten auszuwerten. Sie sind explosiver als Dynamit: Sollten die Kurse weiter sinken, wären die Schulden der Bank höher als ihr Börsenwert. Spätabends ruft er Abteilungsleiter Sam Rogers (Kevin Spacey) zurück ins Büro. Der trommelt sofort die Führungsriege des Konzerns zusammen; Auftakt zu einer langen Nacht der Krisen-Sitzungen. Als der Morgen graut, werden Guthaben in Milliardenhöhe vernichtet.
In den Bilanzen der Konkurrenten: Mit einer tollkühnen Ausverkaufs-Aktion dreht die Bank ihre faulen Papiere binnen weniger Stunden den Wall-Street-Wettbewerbern an. Dann platzt die Blase, und die Kurse fallen ins Bodenlose. Der Rest ist Geschichte: Nun berufen westliche Regierungszentralen hektisch Krisengipfel ein, um die Welt-Finanzwirtschaft vor dem Zusammenbruch zu retten. Staatsgarantien bürgen für Spekulanten, die «too big to fail» sind.
Mit einem Mausklick Unsummen bewegen
Mit Operationen, die niemand ohne ein Studium höherer Mathematik verstehen kann. Genauso aussichtslos wäre, diese Kettenreaktion visualisieren zu wollen. Aber ihre Initialzünder führt «Margin Call» anschaulich vor: Menschen mit der Macht, mit einem Mausklick Unsummen zu bewegen.
Ihre Stärken und Schwächen, ihre Leidenschaften und Ängste entfalten sich in einer Serie unscheinbarer Konferenzrunden. Ranküne und Redlichkeit, Grausamkeit und Gewissensbisse treten in kurzen Wortwechseln auf. Weltbewegende Entscheidungen fallen beim Gang auf die Herrentoilette.
Meute übermüdeter Anzugträger
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine kultiversum-Rezension des Films "Wall Street 2: Geld schläft nicht"
und hier ein Interview mit Regisseur Oliver Stone über die Mentalität an der Wall Street
und hier eine Besprechung des Essays "Das Gespenst des Kapitals" von Joseph Vogl.
Am Ende sind unzählige Existenzen zerstört und der Zuschauer versteht, warum. Obwohl er nur einer Meute übermüdeter Anzugträger zugehört hat, die sich unaufhörlich unterhalten. Dieser Geniestreich erinnert an den Klassiker «Die zwölf Geschworenen» von 1957. Damals destillierte Regisseur Sidney Lumet aus den Hinterzimmer-Beratungen einer Justiz-Jury das Total-Panorama der US-Gesellschaft.
Pflicht-Vorführungen in der Schule
Ähnliches leistet «Margin Call» für den globalisierten Casino-Kapitalismus. Wenn Wirtschaftsbosse beklagen, Schulabgänger verstünden zu wenig von ökonomischen Zusammenhängen, sollten sie Pflicht-Vorführungen in jedem Klassenzimmer sponsern: Prägnanter kann man den abstrakten Irrsinn an den Weltfinanzplätzen nicht vermitteln.
Allerdings riskierte solche Aufklärung, klassenkämpferisches Bewusstsein zu wecken. Wohl und Wehe unserer auf Marktwirtschaft beruhenden Zivilisation hängt davon ab, ob sie aus dem Würgegriff skrupelloser Zocker herauskommt. Da sie nicht mehr die Stricke verkaufen, an denen sie aufzuknüpfen wären, wie Lenin einst hoffte, sollten mündige Bürger ihre Kino-Karte selbst lösen: Wer die heutige Welt verstehen will, muss diesen Film sehen.