Stuttgart

Weltsichten – Blick über den Tellerrand!

Giebelbemalung eines Männerhauses in Abelam (Detail), Maprik-Hügel-Gebiet, Papua-Neuguinea, um 1960; Foto: ohe
Die Quadratur der Erdkugel: Das Linden-Museum feiert seinen 100. Geburtstag mit einer mustergültigen Völkerkunde-Schau. 400 erlesene Exponate bündeln das Kollektivgedächtnis der Menschheit – für eine neue Sicht auf die Welt.

Ehrgeiziger könnte das Vorhaben kaum sein: Zur Feier seines 100-jährigen Bestehens packt das Linden-Museum die ganze Menschheit in eine einzige Ausstellung. Um im Kunstgebäude von Stuttgart andere „Weltsichten“ zu lehren: Im Titel verspricht die Schau keck einen „Blick über den Tellerrand!“. Als glaubten die Besucher, die Erde sei eine Scheibe, und sollten nun eine kopernikanische Wende erleben – die Quadratur der Erdkugel.

 

Info

 

Weltsichten - Blick über den Tellerrand!

 

17.09.2011 - 08.01.2012
täglich außer montags 10 - 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr
im Kunstgebäude Stuttgart, Schlossplatz 2

 

Katalog 19,90 €, im Buchhandel 24,90 €

 

Website zur Ausstellung

 

Dass ihre Oberfläche keine Landkarte verzerrungsfrei darstellen kann, ist bekannt. Doch manche Projektionen geben die realen Proportionen präziser wieder als andere. Die Methode des Linden-Museums kommt der unendlichen Vielfalt der Lebensverhältnisse schon sehr nahe: Es ordnet rund 400 erlesene Exponate zehn existentiellen Aspekten menschlichen Daseins zu. Anhand derer wird verglichen, wie völlig verschiedene Kulturen die conditio humana bewältigen.

 

Fünf Meter breiter Geistwesen-Giebel

 

Soll man außereuropäische Artefakte als autonome Kunstwerke präsentieren oder in den Kontext einbetten, in dem sie entstanden sind? Im ewigen Streit der Ethnologen glückt der Jubiläums-Schau eine Vermittlung beider Standpunkte. Indem sie die übliche Unterteilung in Kulturkreise unterlässt, macht sie Gemeinsamkeiten ganz unterschiedlicher Problemlösungen deutlich. Zugleich hebt sie den ästhetischen Eigenwert der Werke hervor: Schönheit entsteht aus der Bindung an einen spezifischen Zweck.

 

Wie in der grandiosen Inszenierung zum Auftakt: Eine halbrunde Rampe versammelt drei Dutzend spektakuläre Stücke aus der Kollektion von 160.000 Objekten – einem der größten Bestände in Europa. Darunter Dinge, die sonst nicht gezeigt werden, weil dafür die Räume im Stammhaus zu klein sind: etwa ein Männerhaus-Pfosten aus Papua-Neuguinea. Seine beiden Teile sind vier Meter hoch und wiegen rund eine Tonne. Von dort stammt auch eine Giebelmalerei, die mehr als fünf Meter misst: Geistwesen mit riesigen roten Augen wirken wie Südsee-Expressionismus.

Interview mit Direktorin Inés de Castro + Impressionen der Ausstellung


 

Kalligraphie aus Biomasse

 

Das kontrastiert mit Filigranem, dessen nie gesehene Machart verblüfft: ein osmanisches Kastanienblatt, dessen arabische Kalligraphie nicht aufgetragen, sondern aus der Biomasse herausgelöst wurde. Oder indianischer Federschmuck aus Brasilien, dessen strenge Geometrie in Primärfarben an De-Stijl-Entwürfe erinnert. Dabei macht die Zusammenstellung auf ungeahnte Querverbindungen aufmerksam: Eine perlenbesetzte Tanz-Maske aus Kamerun trägt die gleichen gewaltigen Segelohren wie ihr Gegenstück aus Bast vom Amazonas.

 

Solche Analogien über alle geographischen und Epochen-Grenzen hinweg finden sich zuhauf. Das Thema „Schutz und Behauptung“ behandelt eine Wand voller reich verzierter Schilde: vom mannshohen Lederrahmen aus Tansania bis zum trommelförmigen Perlmutt-Kleinod aus Indonesien. Eine Funktion in mannigfachen Varianten – kriegerisches Imponiergehabe verschafft sich in zahllosen Spielarten Ausdruck.

 

Gefäße von afrikanischen Geheimbünden

 

Keine Klasse von Gegenständen wird verschwenderischer geschmückt als die Insignien der Macht. Die Kleidung von Würdenträgern kann gar nicht kostbar genug sein – seien es golddurchwirkte Umhänge mittelasiatischer Herrscher, komplett bestickte Seiden-Mäntel chinesischer Mandarine oder aufwändig gemusterte Überwürfe präkolumbischer Priester.

 

Korrektive des Hangs zur Selbstdarstellung treten dagegen eher unscheinbar auf. Schlichte Trinkgefäße stehen für afrikanische Geheimbünde, die den König kontrollierten und notfalls legal töten durften. So weit reichten die „checks and balances“ in europäischen Monarchien nie.

 

Letzte Totenfeier nach zehn Jahren

 

Aber auch das Gegenteil kommt vor: Gegensätzliche Praktiken bei benachbarten Kulturen. Dem ausgefeilten Ahnen-Kult in Ost- und Südostasien widersprechen die malanggan-Feiern in Neuirland, einer Insel vor Neuguinea. Zehn Jahr lang trauern die Bewohner um ihre Verstorbenen; dabei schnitzen sie Plastiken, deren überbordender Formenreichtum jedem Barock-Altar ebenbürtig ist. Die Skulpturen werden nur während der Feste gezeigt und danach vernichtet oder verkauft, um sämtliche Erinnerungen an die Toten zu tilgen.

 

Schwunghafter Handel ist ohnehin das Band, das alle Erdteile zusammenhält: Manche angeblich authentischen Zeugnisse ferner Völker wurden bereits im 19. Jahrhundert als Souvenirs für Kolonisten angefertigt. Dass in der Globalisierung jede Exotik zur Folklore mutiert, verschweigt die Schau nicht. Die Batak auf Sumatra ersetzen ihre Reisspeicher aus Holzpfählen und Palmblättern durch Wellblech-Schuppen. Digital-Wecker rufen moderne Moslems zum Gebet – auf Wunsch mit dem Klang von Ramadan-Trommeln.

 

Vorbild für das Humboldt-Forum

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Indiens Tibet - Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya" – großartige Überblicks-Schau im Linden-Museum, Stuttgart.

 

Dennoch führt die Ausstellung vor, wie selbst bloße Traditionspflege den ungeheuren Reichtum bewahren hilft, der das Kollektivgedächtnis der Menschheit ausmacht. Was der westliche Kunstbetrieb stets beansprucht und selten einlöst: Experimentierfeld und Inspirationsquelle für alternative Lebensweisen zu sein – hier wird es augenfällig. Diese faszinierende Anschauung ergänzen so knappe wie kluge Kommentare.

 

Damit wird das Linden-Museum nach dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln zum zweiten Völkerkunde-Haus in Deutschland, das die gleichrangige Beachtung und Behandlung aller Kulturen radikal ernst nimmt. Ein gutes Omen für die anstehende Neuordnung seiner ständigen Sammlung – und ein leuchtendes Vorbild für das geplante Humboldt-Forum in Berlin. Sollte es jemals zustande kommen, muss es diesen Beispielen folgen, um dem Stadtschloss im 21. Jahrhundert einen Sinn zu geben: für eine neue Sicht auf die Welt.