Rhein-Neckar-Region

4. Fotofestival – The eye is a lonely hunter: Images of humankind

Philippe Chancel: #2, aus der Serie "Arirang", 2005, Foto: © Courtesy Galerie Philippe Chaume, Paris
Die ganze Menschheit soll es sein: Die Mammut-Schau in drei Städten zielt auf ein Porträt des gesamten Planeten. Das gelingt ihr triumphal mit klugem Konzept und souveräner Bild-Auswahl aus allen Kulturen.

Doch die meisten Beiträge bleiben ungekünstelt dokumentarisch – die sichtbare Realität ist aufregend genug. Von Edvard Burtynsky sind großformatige Ansichten der Brutalo-Industrialisierung zu sehen: mit Bohrtürmen gespickte Ölfelder, Schiffs-Friedhöfe in Südasien und streng symmetrische Einblicke in Chinas monströse Mega-Fabriken. Philippe Chancel verfolgt in «Desert Spirit» die Turbo-Modernisierung auf der arabischen Halbinsel: Dort entstehen leer gefegte Geisterstädte und Autobahnen, die von Sanddünen begraben werden.

 

Wundervolle Zerstörung

 

Olaf Otto Becker bietet fast abstrakt wirkende Bilder, die in allen Nuancen von Weiß und Blau schimmern: Seine Serie «Above Zero» ist Grönlands Gletschern gewidmet, die bei Plus-Temperaturen schmelzen. Und die Österreicherin Aglaia Konrad bedeckt eine haushohe Wand mit Seiten aus Fotobänden, die Meilensteine moderner Architektur abbilden: So wundervoll können Untergang und Zerstörung aussehen.

 

Wie sich Menschen in diesen Lebenswelten einrichten, führt die Schau «Rolle und Ritual» in der Kunsthalle Mannheim vor. Auch hier dominieren Bilder-Reihen. In überbreiten Formaten des Dänen Peter Funch, der Menschenmassen in Großstädten beim Rauchen, Telefonieren oder Fotografieren beobachtet. Oder in der Langzeit-Studie von Peggy Buth, die alle Räume und Winkel des berühmt-berüchtigten Museums von Tervuren ausleuchtet. Hier feiert Belgien bis heute die Ausbeutung seiner Kongo-Kolonie als edelmütiges Zivilisations-Projekt.

 

Impressionen aus dem Heidelberger Kunstverein
und der Sammlung Prinzhorn

 


 

Fashion Victims im Kongo

 

Gegenüber paradieren die Nachfahren der Opfer als Mutanten. Pieter Hugo porträtiert afrikanische Schauspieler, die als Fabelwesen in billig produzierten «Nollywood»-Filmen auftreten: Ihre Kostümierung nimmt sich in Alltagssituationen besonders grotesk aus. Die «eingefleischten Jungfrauen», die Johan Spanner in Albanien traf, schlüpfen lieber in Herrenkleidung: Indem sie wie Drag Queens äußerlich das Geschlecht wechseln, behaupten sie sich in einer archaischen Männer-Gesellschaft.

 

Kleider machen Leute: Mit erlesenem Chic, den sie sich gar nicht leisten können, fallen die «Sapeurs» im heutigen Kongo auf. Was im Westen Fashion Victims genannt wird, sind dort die Mitglieder der «Société des Ambianceurs et des Personnes Elegantes»: Überkandidelte Mode-Freaks, die in feinste Tuche gewandet durch staubige Städte spazieren.

 

Subtile Kreissägen-Studie

 

Monsieur Bonga-Bonga (nicht: Bunga Bunga), den Francesco Giusti in Pointe-Noire ablichtete, kommt im Frack mit blütenweißer Weste, gestärkter Hemdbrust, Stock und Hut daher. Nun ziert er das Plakat des Festivals: ein Akt ästhetischen Widerstands gegen den Verfall der guten Sitten ringsum.

 

Im Vergleich zu solchen Motiven, die im Wortsinne den Horizont erweitern, erscheint die Abteilung «Lebenskreisläufe» im Heidelberger Kunstverein konventionell. Aus dem Potpourri geläufiger Posen und Gesichter treten nur wenige Exponate hervor. Etwa die subtilen Stillleben der Japanerin Rinko Kawauchi: Ihre unspektakulären, aber perfekt inszenierten Studien einer Raupe, Kreissäge oder eines geöffneten Mundes rücken häufig übersehene Details in den Mittelpunkt.

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine kultiversum-Rezension der Fotografie-Ausstellung "OIL" von Edvard Burtynsky in der Altana-Kulturstiftung, Bad Homburg v.d. Höhe

 

und hier eine kultiversum-Rezension der Ausstellung "Yangtze - The Long River & Pripyat and Chernobyl" mit Aufnahmen von Nadav Kander und Robert Polidori in der Galerie Camerawork, Berlin

 

und hier eine Rezension der Ausstellung "Heimatkunde" mit Werken von Boris Mikhailov im Jüdischen Museum Berlin.

Dagegen fällt Fiona Tans Mega-Installation «Vox Populi, Tokyo» von rund 300 Fotos aus privaten Familien-Alben stark ab: Dass Amateure meist banale Schnappschüsse knipsen, auf denen Angehörige wie Kleiderpuppen herumstehen, ist sattsam bekannt. Selbst die Schlaglichter auf ukrainische Obdachlose in allen Stadien der Zerrüttung, mit denen Boris Mikhailov schockieren will, verlieren in diesem Massenauflauf anonymer Gestalten an Brisanz.

 

Kein Selbstmord für Mammut-Schau

 

Auch nacktes Elend kann Ausstrahlung entfalten, wenn es sorgsam behandelt wird. Wie das geht, zeigt der Südafrikaner Roger Ballen; ihm ist in der «Sammlung Prinzhorn» eine Einzelausstellung gewidmet. Ballen besucht verarmte Buren auf dem Land: Den poor white trash porträtiert er in altmeisterlich ausgeleuchteten Schwarzweiß-Aufnahmen, die den Zurückgebliebenen ihre Würde lässt. Selbst in komischen Augenblicken, wenn Hund und Herrchen den gleichen Gesichtsausdruck tragen.

 

Mit dieser Reise um die Welt in tausend Bildern kommt das Festival ans Ziel: der Menschheit einen Spiegel vorzuhalten. Schade, dass es dabei nur zwei Monate lang an drei Standorten verharrt – anstatt wie einst «The Family of Man» weltweit Millionen zu begeistern. Dennoch erwartet die Mammut-Schau gewiss ein besseres Schicksal als die Hauptfigur von Carson McCullers Roman «The heart is a lonely hunter», dessen Titel ihr Motto abwandelt: Der taubstumme John Singer, ganz Augenmensch, begeht am Ende des Buches Selbstmord.