Die Flagge der australischen Ureinwohner ist sehr schlicht. Doch wer sie einmal sah, vergisst sie nicht: ein leuchtend gelber Kreis im geteilten Feld – oben schwarz, unten rot. Schwarzer Nachthimmel und rote Erde, dazwischen die aufgehende Sonne, deren sengende Strahlen Leben spenden und zugleich die Welt ausdörren.
Info
Samson & Delilah
Regie: Warwick Thornton, 101 min., Australien 2009
mit: Rowan McNamara, Marissa Gibson, Scott Thornton
Dieses Bild sieht Samson jeden Morgen mit vernebeltem Kopf: Beim Aufwachen greift er nach einer Flasche voll Benzin, um daran zu schnüffeln. Was die Schönheit des erhabenen Anblicks nicht mindert. Ebenso wie die Flagge und Sonne ist «Samson & Delilah» ganz einfach. Und genauso einzigartig: Der Film überwältigt mit elementarer Wucht.
Niemand hebt Telefonhörer ab
Zwei 14-jährige Teenager leben in einer kleinen Aborigines-Siedlung mitten in der Wüste. Ein paar kahle Wellblech-Hütten und ein Krämer-Laden sind im Sand verstreut. Ein ausrangierter Truck-Anhänger beherbergt das «Health Centre». Daneben steht ein öffentliches Telefon, das selten klingelt; nie hebt jemand ab.
Offizieller Film-Trailer
Känguru als Braut-Werbung
Samson schnüffelt und trödelt sich durch den Tag. Er hört gern Radio, wenn es nicht die Freiluft-Combo seines Bruders übertönt, die ununterbrochen Reggae spielt. Delilah kümmert sich um ihre Großmutter; mit ihr malt sie Dot-Painting-Bilder, die ein Händler kauft. Samson hat ein Auge auf Delilah geworfen: Er wirft ihr Kiesel nach oder verehrt ihr ein frisch erlegtes Känguru. Doch er sagt nie etwas.
Delilah spricht mit ihrer Oma auf Warlpiri. Eines Morgens wacht sie nicht mehr auf; Verwandte beschuldigen das Mädchen und verprügeln es. Weil ihn der ewige Reggae nervt, schlägt Samson den Gitarristen nieder, wofür sich sein Bruder rächt. Das geschundene Pärchen stiehlt einen Jeep und flieht nach Alice Springs.
Quasi ein Stummfilm
Beide landen bei einem Penner unter der Brücke. Den Trunkenbold spielt Scott Thornton, der Bruder des Regisseurs – als sich selbst, denn er war obdachloser Alkoholiker. Ohne Geld und Perspektive verfällt Samson seiner Benzin-Flasche. Im Rausch entgeht ihm, dass Delilah erst vergewaltigt und später überfahren wird. Aus der Klinik entlassen, kehrt sie mit dem apathischen Samson in die Wüste zurück – aber bei ihren Leuten bleiben sie nicht.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier einen Bericht über einen Vortrag von Regisseur Warwick Thornton zur Modernisierung der Aborigines-Kultur auf der documenta 13
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Remembering Forward" über Malerei der australischen Aborigines seit 1960 im Museum Ludwig, Köln
und hier eine kultiversum-Besprechung des franko-australischen Spielfilms "The Tree" von Julie Bertuccelli mit Charlotte Gainsbourg im Outback von Australien.
Aborigines im Aquarium
Für die periodische Umnachtung in Samsons Hirn genügen ihm langsame Ab- und Aufblenden. Wenn Delilah durch die Stadt streunend ihre Bilder feilbietet, beobachtet sie die Kamera durch Fenster eines Cafés: Man hört den Klangteppich der Zivilisation – Dudelfunk oder zischende Espresso-Maschinen – und sieht das Mädchen wie im Aquarium. Kein Weißer beachtet Aborigines. «Ihnen wird nicht erlaubt, menschlich zu sein. Sie sind Unberührbare», kommentiert der Regisseur.
Diese unüberwindlich scheinende Distanz hebt Thorntons Film auf. Dafür wurde er in Australien mit Preisen überschüttet; beim Festival in Cannes 2009 erhielt er die Goldene Kamera für das beste Spielfilm-Debüt. Dem Zuschauer gibt er den Glauben an die magische Kraft des Kinos zurück: Für 100 Minuten macht «Samson & Delilah» die Welt-Anschauung australischer Ureinwohner sichtbar. Ohne große Worte.