Marjane Satrapi

Geschichte vor den Atomwaffen

Marjane Satrapi. Foto: Prokino
Eine Kindheit im Iran als Schwarzweiß-Comic: Mit «Persepolis» wurde Marjane Satrapi weltbekannt. Ihr zweiter Film «Huhn mit Pflaumen» handelt von der unglücklichen Liebe eines Geigers im Teheran der 1950er Jahre. Ein Gespräch.

Madame Satrapi, in «Huhn mit Pflaumen» spielt Musik eine sehr wichtige Rolle. Wie beeinflusst Musik Ihr Leben?

 

Ich mag vollkommen verschiedene Musikstile. Johann Sebastian Bach und Mozart mag ich genau so sehr wie Iggy Pop and The Stooges, Soul, Funk oder auch Rock. Ich bin offen gegenüber allen Arten von Musik, abgesehen von R’n’B. Ich hasse R’n’B! Das ertrage ich nicht. Genau wie den Kram von Lady Gaga.

 

Wir kennen keine Regeln

 

In einem Interview beschrieben Sie Ihre Arbeit als Freestyle-Jazz?

 

Der Film ist existentialistisch, suggeriert aber gleichzeitig den Glauben an höhere Mächte. In seinem Zentrum steht eine nicht sonderlich sympathische Figur, die nicht nett ist, seine Kinder nicht mag und die auch keine Erlösung erfährt. Weder ich noch mein Regie- und Drehbuch-Partner Vincent Paronnaud waren auf einer Filmhochschule. Keiner von uns kommt vom Kino. Wir kennen keine Genre-Regeln, die uns vorschreiben, was wann zu passieren hat. Mit Freestyle meine ich, dass wir keinem bestimmten Stil folgen wollten. Wir machen, was wir wollen.

 

Wir sind alle krankhaft gemein

 

Der Violinist Nasser-Ali Khan, Ihre Hauptfigur, ist aus genannten Gründen ein Antiheld. Das Einzige, das er wirklich liebt, ist sein Künstler-Dasein.

 

Nun ja, er liebt auch diese Frau. Er lebt ein Leben mit gebrochenem Herzen, was ein Überleben sehr schwierig macht. Auf seine Weise ist er ein Held, weil er vollkommen ehrlich zu sich selbst ist. Er versteckt sich nicht. Er erinnert sich an sein Leben. Er stirbt für sein Leben. Das weckt Sympathien beim Publikum für diesen recht gemeinen Typen. Es fühlt mit ihm und versteht ihn. Der Film ist von daher sehr psychologisch.

 

Nehmen wir seine hässliche Frau, die sehr garstig zu Nasser-Ali ist und ihm das Leben zur Hölle macht. Mit der Zeit erkennen wir, wie schön sie eigentlich ist und dass sie gute Gründe hat, so zu sein, wie sie ist. Am Ende lieben wir sie. Das ist ein Geschenk, das wir jedem der Charaktere machen. Sie dürfen manchmal gemein sein, genau wie echte Menschen. Es gibt niemanden, der von Geburt an nett ist. Wir sind alle krankhaft gemein.

 

Den Glauben ans Leben verlieren

 

Ist Musik für Nasser-Ali die Art und Weise, seine tragische Liebe zu kanalisieren?

 

Sie hat ihn über Jahre am Leben gehalten. Aber in dem Moment, in dem seine große Liebe so tut, als kenne sie ihn nicht, zerbricht alles für ihn. Dank seiner Sehnsucht hat er über 30 Jahre lang Musik gemacht und sich an seine Liebe erinnert. Er dachte, sie würde das auch tun. Seine Wünsche werden sich nie erfüllen. Er verliert den Glauben an die Musik und damit ans Leben.

 

Der letzte verfilmte Comic

 

Nach dem überaus erfolgreichen «Persepolis» basiert auch «Huhn mit Pflaumen» wieder auf einem Ihrer Comics.

 

Das folgt keinem Prinzip. Bei «Persepolis» wollte ein Freund von mir Film-Produzent werden und überredete mich, «Persepolis» zu adaptieren. «Huhn mit Pflaumen» empfand ich als sehr kinematografisch. So entstand eine offensichtliche Fortsetzung der Arbeitsweise, aber es ist nicht so, dass ich Bücher schreibe, um anschließend Filme daraus zu machen. Dafür dauert das einfach zu lange. Es wäre hinderlich, Bücher zu schreiben, nur um diese zu adaptieren. Das ist das zweite und letzte Mal.

 

Selbst alle Schauspieler sein

 

Im Gegensatz zu «Persepolis», wo sie alle Schauspieler selbst erschufen, waren sie nun auf reale Menschen angewiesen.

 

Bei «Persepolis» war ich selbst alle Schauspieler. In «Huhn mit Pflaumen» erwecken diese tollen Schauspieler meine Figuren zum Leben. Entscheidend bei einem solchen Film ist die Besetzung. Nur so konnten wir die Geschichte transportieren. Dass das klappte, war ein Geschenk der Darsteller an die Geschichte.

 

Die Verrücktheit des Lebens erklären

 

Was prädestinierte Mathieu Amalric für die Rolle?

 

Er ist der beste französische Schauspieler! Er kann einen Bösewicht bei James Bond genauso spielen wie einen Menschen, der am Locked-In-Syndrom erkrankt ist, in «Schmetterling und Taucherglocke» (A.d.R.: Film von Julian Schnabel, 2007). Er ist extrem talentiert, extrem intelligent und extrem intensiv. Ein einzigartiger Schauspieler. Mathieu war meine erste und meine zweite Wahl für die Rolle. Gott sei Dank hat er zugesagt. Allein, was seine Augen ausdrücken! Er erklärt die Verrücktheit des Lebens.

 

Geschichten, die mich berühren

 

Während Sie in «Persepolis» Ihre eigene Biographie verarbeiteten, steht nun die Ihres Großonkels im Fokus.

 

In einem Familienalbum entdeckte ich diesen gut aussehenden, romantischen Typen. Ich erfuhr, dass er ein fantastischer Musiker war und die Menschen sich in der Straße niederließen, um zuzuhören, wenn er probte. Er starb sehr traurig. Das ist das einzige, was ihn mit Nasser-Ali aus dem Film verbindet. Alles andere habe ich erfunden.

 

Ich erzähle Geschichten, die mich berühren und die auf eigenen Erfahrungen beruhen. Selbst Zombie- und Vampir-Filme bedienen sich bei Erfahrungen, eigenen Erinnerungen oder Dingen, die einem erzählt wurden; etwas Vertrautem. «Persepolis» erschien vielen sehr politisch. Ich empfand ihn eher als humanistisch: der Mensch als soziales Wesen, und wie er überlebt.

 

Natürlich steckt dahinter mehr; bei «Huhn mit Pflaumen» die Hoffnung auf Demokratie im Iran, die in den 1950er-Jahren verflog. Das unterfüttert die Geschichte, aber in der Ebene darüber spielt das Melodram, eine wundervolle Liebesgeschichte. In diesem Land, von dem heute nur noch die atomare Bedrohung wahrgenommen wird, starb 1958 ein Mann aus Liebe zu einer Frau. Ihm gebührt der Respekt, dass wir uns für die Menschen und für ihre Romanzen interessieren.