Folter-Verbot für EU-Beitritt
Heimlicher Hauptdarsteller ist jedoch Staatsanwalt Nusret (Taner Birsel): Er verkörpert die Doppelmoral der kemalistischen Funktions-Elite. Wenn Kommissar Naci wütend Kenan schlägt, weil der sich wieder in der Fundstelle geirrt hat, staucht Nusret ihn zusammen: «Hör sofort auf, sonst kommt die Türkei nie in die EU!». Sobald Naci den Täter in eine dunkle Scheune schleppt, um ihn dort zu «bearbeiten», lässt ihn der Staatsanwalt gewähren.
Er hat seine eigene Leiche im Keller: Seine Ehefrau beging nach einem Seitensprung von ihm Selbstmord. Das erfährt Nusret vom Arzt, nachdem er diesem verklausuliert seine Gewissensnöte offenbart hat. Scheibchenweise, mit jeweils ein paar Sätzen im Auto, am Rastplatz oder auf freiem Feld. Wie einander Fremde sich unterhalten, wenn die Wartezeit lang wird und das Herz überläuft.
Zyklischer Trip der Aufklärung
So setzt sich im Laufe dieser Odyssee Teilchen für Teilchen ein Puzzle zusammen, das über die Beziehungen innerhalb der Gruppe Aufschluss gibt. Wie der gesamten Türkei – mit ihren nie überwundenen Gegensätzen zwischen Städtern und Landbewohnern, verwestlichter Elite und archaisch lebender Unterschicht, selbstherrlichen Männern und stumm leidenden Frauen.
Dieser nur von Tee-Pausen unterbrochene und zugleich in Gang gehaltene Trip ins Ungewisse ist zyklisch angelegt: Nach Tagesanbruch kehrt der Autokorso auf derselben Route in die Kleinstadt heim, die er bei seiner nächtlichen Irrfahrt zurückgelegt hat. Eine überwältigende Metapher für den Prozess der Aufklärung und Bewusstseins-Bildung, den alle Beteiligten durchlaufen: Nun ist alles deutlich sichtbar.
Sergio Leone + Louis-Ferdinand Celine
Doch kein Konflikt gelöst. Wie im filmgeschichtlichen Vorläufer, auf den der Titel anspielt: «Once upon a time in America» von 1984 ist das letzte Werk und opus magnum von Sergio Leone, dem godfather des Spaghetti-Westerns. Sein bildgewaltiges Epos beschreibt die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert anhand der Archetypen des Westerns aus dem 19.
Mutatis mutandis macht das Nuri Bilge Ceylan ebenfalls: Nur ist aus dem mächtigen Mafia-Clan ein schäbiger Spürhund-Trupp geworden. Unausgesprochenes Vorbild des Films ist daher ein literarisches Werk: die «Reise ans Ende der Nacht» von Louis-Ferdinand Celine. Sein Debüt-Roman von 1932 gilt als Schlüsselwerk der Moderne: Der Held Bardamu wurstelt sich durch das Grauen des Ersten Weltkriegs und des Kolonial-Regimes in Übersee, bevor er Medizin studiert und als Leiter einer Psychiatrie endet.
Geschwätz als urdemokratischer Akt
Info
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des türkischen Fundamentalisten-Thrillers "Labirent" von Tolga Örnek
und hier einen Beitrag über den russischen Film "How I ended this summer" von Alexej Popogrebsky: ein Psychodrama in der Arktis, 2010 mit zwei Silbernen Bären prämiert
und hier einen kultiversum-Bericht über den türkischen Berlinale-Gewinner 2010: "Bal - Honig" von Semih Kaplanoglu.
Dieser Stoff ist so wenig bemerkenswert wie der von «Once upon a time in Anatolia». Was das Buch zum Ereignis machte, war sein Stil: Nach 300 Jahren Sprach-Reglementierung durch die Académie française führte der Autodidakt Celine das Vulgär-Französisch Argot in die Literatur ein – und erschloss ihr damit einen Kosmos nie zuvor gelesener Sprechweisen.
Celines Roman adelte das Geschwätz kleiner Leute als literaturfähig, wie Ceylans Film es auf die Leinwand bringt – ein urdemokratischer Akt: Alle dürfen mitreden. Und ihre Stimme abgeben: Das hat der AKP-Partei als Sprachrohr anatolischer Provinz-Notabeln zwei Erdrutsch-Siege bei Parlaments-Wahlen verschafft.
Konversion zur Kraft des Kinos
Man sieht: Die epochale Umwälzung, die derzeit die Türkei erfasst, ist in diesem epischen Anti-Krimi enthalten. Womit der Regisseur jedem Zweifler, TV-Glotzer oder Youtube-Anhänger den Glauben an die Kraft des Kinos zurückgibt. Ein absolutes Meisterwerk.