Nuri Bilge Ceylan

Once upon a time in Anatolia

Hinter tausend Feldern keine Welt: Das Ermittler-Team stochert bei Tagesanbruch im Dunkeln. Foto: Kinostar
(Kinostart: 19.1.) Ein nächtlicher, von Tee getriebener Trip durch die Einöden Anatoliens und der menschlichen Seele: Der Anti-Krimi von Regisseur Ceylan enthüllt diskret ein Total-Panorama der Türkei – als ultimatives Road Movie.

Eigentlich passiert gar nichts. Jedenfalls nichts, was man nicht längst erwartet hätte, bevor es geschieht. So lässt sich die Handlung in zwei Sätzen wiedergeben: Ein Ermittler-Team sucht auf nächtlicher Irrfahrt nach einer irgendwo vergrabenen Leiche, die es im Morgengrauen findet. Dann kehrt es in die Kleinstadt zurück, aus der es am Vorabend aufbrach. Damit ist alles und nichts gesagt.

 

Info

Once upon a time in Anatolia

 

Regie: Nuri Bilge Ceylan, 137 min., Türkei/ Bosnien-Herzegowina 2011;
mit: Yılmaz Erdoğan, Muhammet Uzuner, Ahmet Mümtaz Taylan

 

Englische Website zum Film


Allein die Konsequenz, mit der dieser Film in zweieinhalb Stunden jede Überraschung verweigert, macht ihn einzigartig. Wie alles andere: Der meditative Rhythmus, mit der die Kamera eine Schar Polizisten begleitet, die scheinbar ziellos umherstreift. Die Beharrlichkeit, mit der jede Kleinigkeit als außergewöhnliches Seh-Ereignis aufgenommen wird. Ein Augen öffnendes Ergebnis, das völlig neu das Schauen lehrt.

 

Reine Anschauung gegen Kant

 

Nuri Bilge Ceylan, der bedeutendste zeitgenössische Autorenfilmer der Türkei, ist ein Großmeister des diskreten Minimalismus. Dem Plakativen, Grellen, Überzeichneten, das dem Kino seit seinen Anfängen eignet, setzt er einen Rückzug auf die reine Anschauung entgegen. Als wolle er nachweisen, dass sie doch nicht blind ist, und auf diese Weise Kant widerlegen: mit sorgfältig komponierten und gänzlich unkommentierten Bildern für Anfang und Ende des menschlichen Vorstellungs-Vermögens.


Offizieller Film-Trailer


 

Struktur wie in Tschechow-Dramen

 

Wobei man sich vom zweiminütigen Werbe-Trailer, in dem kein Wort gesprochen wird, nicht täuschen lassen sollte: In «Once upon a time in Anatolia» wird sehr viel geredet. Aber nur zusammenhanglos, haltlos subjektiv und damit uneigentlich: Die wirkliche Geschichte erzählen einzig die Bilder in ruhigen, doch niemals statischen oder langweiligen Einstellungen.

 

Mit dieser Struktur ähnelt der Film den Dramen von Tschechow: In ihnen hört gleichfalls das Gerede nimmermehr auf. Ihre Protagonisten palavern über Gott und die Welt und verfehlen dabei stets das Wesentliche. Nur der Zuschauer an seinem archimedischen Punkt jenseits allen Geschehens kann das zwischen den Zeilen Ungesagte heraushören. Und ihm dadurch einen Sinn ablauschen, der das Bewusstsein aller Beteiligten übersteigt.

 

Bürgermeister-Bitte um Leichenhalle

 

Dies sind im Film die üblichen Verdächtigen einer Kriminalisten-Einheit, die zu einem Ortstermin aufbricht. Ein Mord ist geschehen und der mutmaßliche Täter – ein armer Schlucker namens Kenan (Ahmet Mümtaz Taylan) – schon gefasst, doch die Leiche fehlt. Also muss sie gefunden und obduziert werden, um rechtsstaatlichen Verfahren zu genügen. Was einfach erscheint: Kenan kooperiert und will die Ermittler dorthin führen, wo er das Opfer verscharrt hat.

 

Das wird schwieriger als gedacht: In der staubtrockenen Steppe des ostanatolischen Hügellandes findet sich der Täter schlecht zurecht. Der Autokorso aus drei Wagen fährt kreuz und quer, die Insassen befunden hier und buddeln da – ohne Erfolg. Zwischendrin hält man in einem kleinen Weiler Rast. Der Mukhtar (Ortsvorsteher) empfängt und bewirtet die seltenen Gäste auf seinem Gehöft – um die hohen Herrschaften zu bitten, sie mögen eine Leichenhalle finanzieren.

 

Bestattung als sozialer Brennpunkt

 

Nur der Tod der Alten, die im Dorf geblieben sind, lockt noch ihre Nachkommen herbei; sie sind längst in Großstädte oder das Ausland abgewandert. Bestattung als sozialer Brennpunkt: Am Ende wird die Leiche ordnungsgemäß begutachtet. Währenddessen begeistert sich der Kleinstadt-Pathologe wortreich für modernere Instrumente, über die seine Kollegen in der Regional-Metropole Kırıkkale verfügen – Sozialneid noch bei den letzten Dingen.

 

Aus solchen beiläufigen, leicht deplatziert wirkenden Bemerkungen setzt sich allmählich ein ganzes Gesellschafts-Panorama zusammen. Der mitfahrende Mediziner Cemal (Muhammet Uzuner) ist einerseits hoch geachtet – stets wird er mit seinem Doktor-Titel angesprochen – und andererseits Außenseiter. Als er mitfühlend Kenan eine Zigarette spendiert, untersagt ihm das Kommissar Naci (Yılmaz Erdoğan) strikt: Keine Kippe ohne Gegenleistung.