Berlin

Boris Mikhailov: Time is out of joint

Boris Mikhailov: Untitled (Anatolij + Tanja), aus der Serie "Case History", 1997-9. Foto: © B. Mikhailov
Fotografie als Schock-Therapie: Der Ukrainer Mikhailov dokumentiert schonungslos Verelendung in der Ex-Sowjetunion. Seine umfassende Werkschau in der Berlinischen Galerie zeigt ihn als experimentierfreudigen Chronisten des Verfalls.

Die Zeit ist aus den Fugen, und die Zeitgenossen ebenfalls: In allen Varianten von Verwahrlosung und Verblödung posieren sie vor der Kamera. Ukrainische Obdachlose geben ihre geschundenen und versehrten Körper zudringlichen Blicken preis: Von Alkohol- und Drogen-Missbrauch gezeichnet, von Kälte und Gewalt gepeinigt, zeigen sie ihre Wundmale vor, als wären es Stigmata.

 

Info

 

Boris Mikhailov:
Time is out of joint -
Fotografien 1966 - 2011

 

24.02.2012 - 28.05.2012
täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr in der
Berlinischen Galerie,
Alte Jakobstraße 124 - 128, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Für diese Aussätzigen gibt es keinerlei Unterstützung oder Hilfe – außer der, die sie sich gegenseitig gewähren: Zwei zerschlagene Teenager klammern sich aneinander, als seien sie füreinander der letzte Halt. Drei Frauen heben gemeinsam einen Betrunkenen hoch – wie bei einer Kreuz-Abnahme Jesu auf Altarbildern.

 

Postsowjetische Not-Aufnahmen

 

Solche Schock-Fotos machten Boris Mikhailov Mitte der 1990er Jahre im Westen schlagartig bekannt. Er führte schonungslos vor, wie die postsowjetische Gesellschaft zerfiel und eine brutale Not zeitigte, die Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hatte. In seinen «Krankengeschichten» tauchen Geschwüre und Verstümmelungen aller Art auf – was ihm zuweilen den Vorwurf eintrug, er stelle die Opfer der Verhältnisse bloß.

Feature mit Statements von Boris Mikhailov + Direktor Thomas Köhler; © Berlinische Galerie


 

In der Dämmerung am Boden

 

Mit einer Horizont-Kamera, die im 120-Grad-Winkel aufnimmt, lichtete er in Hüfthöhe Alltags-Szenen für seine Bilder-Serien «Am Boden» und «Dämmerung» ab. Sie zeigen Untergangs-Stimmung in antiquierten Sepia- oder verwaschenen Blau-Tönen: Verfallende Ruinen, stürzende Linien und Gestrauchelte; leblose Leiber, um die sich keiner kümmert – Weltende.

 

Dabei hatte der 1938 in Charkow geborene Ukrainer jüdischer Herkunft keineswegs als Elends-Chronist begonnen. Ab den 1960er Jahren dokumentierte er das Privat-Leben von Sowjet-Bürgern und ihr bescheidenes Glück in der Breschnew-Ära: von fast mondän anmutender Sommerfrische auf der Krim bis zu proletarischen Badefreuden im Salzwasser-See neben Industrie-Anlagen.

 

Frauenleib wie Wurstmasse

 

In den 1970er Jahren schloss sich Mikhailov den «Moskauer Konzeptualisten» an. Indem er banale Schnappschüsse von Hand kolorierte, entstand seine «Rote Serie»: Grelles Rot, die Symbol-Farbe des Sozialismus, mutierte so zum allgegenwärtigen wie trivialen Erkennungs-Mal der Epoche.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wyssozki – Danke, für mein Leben" über den berühmtesten Liedermacher der Sowjetunion

 

und hier einen Beitrag über die Fotografie-Ausstellung "Stiller Widerstand. Russischer Piktorialismus 1900 – 1930" im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung des Dokumentarfilms “Der Fall Chodorkowski“ über den inhaftierten Öl-Milliardär und Putin-Gegner

 

und hier ein Interview mit Regisseur Cyril Tuschi über Filmemachen in Russland unter Putin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Heimatkunde" im Jüdischen Museum Berlin mit Beiträgen von Boris Mikhailov.

 

Mit Doppel- und Mehrfach-Belichtungen schuf er gleichzeitig seine «Überblendungen»: surreal anmutende Foto-Collagen in der Nachfolge von Man Ray und Moholy-Nagy voller Witz und Hintersinn. Da ähnelt ein Frauenleib in der Hängematte der Wurstmasse von Salami; die Projektion eines Pfauen-Rads auf den Po einer Dame wirkt wie ein Akt des Vandalismus.

 

SS-Dominas die Stiefel lecken

 

Nackte Tatsachen steigerte Mikhailov in den 1990er Jahren zu äußerster Drastik. Die Serie «Wenn ich ein Deutscher wäre…» bebildert Rollen- und Gedankenspiele über die Besetzung der Ukraine durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg – ein Tabu-Thema bis zum Ende der Sowjetunion. Nach ihrem Zerfall reizen es diese grotesken Inszenierungen aus: Kollaborateure himmeln Offiziere und Dominas in SS-Uniformen an, lecken ihnen die Stiefel oder gleich die Geschlechtsteile.

 

Im Jahr 2000 zog Mikhailov nach Berlin um, doch blieb er seiner Motiv-Welt treu. Penner, die niemand beachtet, gibt es auch hierzulande – er porträtiert sie als komische Heilige. Ebenso wie einen Nudisten, der seine Frau Vita belästigt, während sie im Eva-Kostüm ein Sonnenbad nimmt – ihr Mann hält das befremdliche Geschehen fotografisch fest.

 

Lebenswerk voller Mitgefühl

 

Dabei ist sein Blick auf den Bodensatz der Gesellschaft oder ihre bizarren Randphänomene nie voyeuristisch, sondern stets von Mitgefühl bestimmt: Nichts Menschliches ist ihm fremd. Sein Lebenswerk präsentiert die Berlinische Galerie nun erstmals umfassend in Deutschland – in einer so nüchternen wie kongenialen Inszenierung.