Jean-Pierre + Luc Dardenne

Der Junge mit dem Fahrrad

Familien-Glück auf zwei Zweirädern: Cyril und seine Ersatz-Mama Samantha. Foto: Alamode Filmverleih
(Kinostart: 9.2.) Porträtisten des Prekariats: Der schonungslose Sozialrealismus der Dardenne-Brüder wird auf Festivals mit Preisen überhäuft. Wie dieser Film, der ungewohnt optimistisch ausfällt – mit einem elfjährigen Wildfang als Star.

Mit qualmenden Reifen durch die Nachbarschaft: Der elfjährige Cyril (Thomas Doret) ist ein ungestümes Energiebündel. Nichts kann ihn aufhalten, wenn er auf seinem Moutain-Bike durch die Wohnsiedlung rast. Voller Kraft tritt er in die Pedalen – aus Frust. Davon hat er jede Menge: Sein Vater (Jérémie Renier) hat ihn ins Kinderheim gesteckt und holt ihn nicht mehr ab, obwohl das vereinbart war.

 

Info

Der Junge mit dem Fahrrad

 

Regie: Jean-Pierre + Luc Dardenne, 87 min., Belgien/ Frankreich/ Italien 2010;
mit: Thomas Doret, Cécile De France, Jérémie Renier

 

Website zum Film


Schlimmer noch: Er verhökert Cyrils Fahrrad und zieht klammheimlich um. Nur gut, dass der Sohn bei seiner verzweifelten Suche nach Papa der Friseurin Samantha (Cécile de France) in die Arme läuft. Gutmütig kümmert sie sich um ihn, treibt sein geliebtes Rad wieder auf und nimmt ihm am Wochenende zu sich. Eine treu sorgende Ersatz-Mutter, von der alle Heimkinder träumen.

 

Radelndes Familien-Glück

 

Doch Cyril erwidert ihre Zuneigung anfangs nicht. Er sucht die Nähe des Dealers Wes (Egon Di Mateo), der den kleinen Racker für einen Raubzug abrichtet. Seinen Anteil trägt Cyril zu Papa, um sich dessen Liebe zu erkaufen – ohne Erfolg. Reumütig kehrt er zu Samantha zurück, auf die er zuvor mit einer Schere losging. Doch die verlangt von ihm, sich der Polizei zu stellen und seine Untat zu gestehen – dafür belohnt sie ihn mit Familien-Glück bei Radel-Ausflügen.


Offizieller Film-Trailer


 

Mehr Sonnenschein und Musik

 

Ein happy end ist ebenso neu im Œuvre der Brüder Dardenne wie Szenen im Sonnenschein und sparsam eingesetzte Musik. Bislang lastete auf den wallonischen Schauplätzen ihrer Filme stets eine bleigraue Wolkendecke – akustisch von prasselnden Regenschauern begleitet. Ihre hoch moralischen Fabeln über Schuld, Verantwortung und Vergebung verlegen sie meist ins belgische Prekariat: Mangels Manieren treten Verfehlungen und Konflikte umso deutlicher hervor.

 

Ihr schonungsloser Sozialrealismus wird auf Film-Festspielen regelmäßig mit Preisen überhäuft. Als erkaufe sich die Illusions-Branche dafür Absolution, dass sie sich ansonsten herzlich wenig um die Unterschicht schert. Auch «Der Junge mit dem Fahrrad» erhielt beim Festival in Cannes den Großen Preis der Jury und den Europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch – obwohl es untypisch optimistisch endet.

 

All you need is love

Hintergrund

Weitere Rezensionen finden Sie in der Presse-Schau bei Film-Zeit.

 

Lesen Sie hier ein Interview mit Jean-Pierre + Luc Dardenne

 

und hier ein kultiversum-Porträt der Brüder Dardenne: "Hin zum Kern menschlicher Existenz".


Offenbar lassen die grüblerischen Gebrüder, nachdem sie ein Vierteljahrhundert lang der Gegenwart die Leviten gelesen haben, diesmal Altersmilde walten. Das bekommt dem Szenario schlecht: Die Flucht des Rabenvaters vor seinem Sprössling wird ebenso wenig motiviert wie die grundgütige Zuwendung, die ihm Samantha schenkt. Für engelsgleiche Wesen gibt es in der Weltordnung der Dardennes, die sonst so unbarmherzig beobachten, eigentlich keinen Platz.

 

Allein sein sommersprossiger Hauptdarsteller macht den Film zum Ereignis: So viel ungezähmte Energie ist selten auf der Leinwand zu bewundern. Wie der Wildfang tobt, vor jedem Problem davon läuft oder tollwütig um sich schlägt, um schließlich doch auf die Stimme der Vernunft zu hören. Das wärmt und öffnet jedes Zuschauers Herz – für eine Botschaft, der niemand widersprechen kann: All you need is love.