Berlin

Gerhard Richter: Panorama

Gerhard Richter: Neger (Nuba), 1964, 145 x 200 cm, Öl auf Leinwand; Courtesy Gagosian Gallery. Foto: © Gerhard Richter, 2012
Eine Retrospektive, die keine sein will, sondern eine Hommage an den berühmtesten deutschen Künstler. Ihn zeigt die Neue Nationalgalerie als Rollen-Modell einer Gesellschaft, die alles akzeptiert – sofern es perfekt ist.

Perspektive einer Foto-Safari

 

Obwohl sie nichts weniger sind als das. Indem Richter seine Motive mechanisch auf die Leinwand überträgt und anschließend ihre Konturen auflöst, tilgt er jeden Bezug zur Wirklichkeit. Auch inhaltlich: Als Vorlagen wählt er Ausschnitte, die symbolisch stark aufgeladen sind – für ihn persönlich oder für alle Nachrichten-Konsumenten. Das ist den Resultaten nicht anzusehen. Sie sind nur Bilder, deren Komposition sich selbst genügt. Der Wille, auf ihnen Erkennbares zu erblicken, existiert allein im Kopf des Betrachters.

 

Manchmal spielt Richter darauf an. Wie mit den Bildtiteln «Tourist (mit 1 Löwen)» bzw. «(mit 2 Löwen)» von 1975: Im graufleckigen Getüpfel lassen sich mit Mühe die Schemen von Raubkatzen entdecken. Aber der Tourist befindet sich nicht im Bild, sondern davor. Er steckt in der vom Maler gewählten Frontal-Perspektive; sie zwingt den Zuschauer in die Ideal-Position einer Foto-Safari. In freier Wildbahn würde man die Löwen vermutlich aus allen möglichen Blickwinkeln sehen, aber kaum malerisch drapiert wie auf einer Ansichtskarte.


Interview mit Kurator Hubertus Butin und Impressionen der Ausstellung im me Collectors Room


 

Pausenlos an Natur erinnern

 

Umgekehrt beharrt Richter darauf, dass vermeintlich abstrakte Bilder für den Betrachter sehr konkret bleiben. Sie zeigen «Szenen, Umgebungen oder Landschaften, die es eben nicht gibt, aber sie müssen die Qualität haben, als könnte es sie geben», damit er mit ihnen etwas anfangen kann: « Sie beziehen daher ihre Wirkung, dass sie pausenlos an Natur erinnern». Nur dann werden sie als ansprechend und harmonisch erlebt: Schönes entsteht und wirkt durch permanenten Abgleich mit bereits Bekanntem.

 

Das hat Richter in den letzten Jahren vorangetrieben wie sonst niemand: Meterhohe Leinwänden beschichtet er mit leuchtenden Primärfarben, die er mit einem Rakel abzieht. Immer wieder, bis dieser kaum kontrollierbare Herstellungs-Prozess zur gewünschten Verteilung von Tönen und Formen führt: Der Zufall malt mit. Das Kunst-Publikum dankt es ihm: Selten ernten abstrakte Gemälde so begeisterten Zuspruch wie Richters Farb-Explosionen.

 

Panoptikum ergänzt Panorama

 

Wie souverän er das nicht Planbare seinem Kalkül unterwirft, zeigen die «Editionen 1965 – 2011», die zeitgleich im «me Collectors Room» zu sehen sind. Sammler Thomas Olbricht hat all das erworben, was Richter in mehrfacher Auflage anfertigte, und breitet nun seine Kollektion von 150 Arbeiten aus – ein Panoptikum zur Ergänzung des Panoramas.

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Rezension des Dokumentarfilms "Gerhard Richter Painting" von Corinna Belz

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung “Unscharf. Nach Gerhard Richter” in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung “Gerhard Richter: Bilder einer Epoche” im Bucerius Kunst Forum, Hamburg.


Viele Unikate in der Nationalgalerie finden sich hier in Varianten wieder. Spannend ist nicht nur der Vergleich ihrer Wirkung. Kaum glaublich erscheint auch, dass so viele verschiedenartige Werke von einem Künstler stammen. Richters proteisches Wesen, mit dem er sich alle denkbaren Techniken und Bild-Programme anverwandelt, kommt hier gebührend zur Geltung.

 

Farb-Schlieren auf SPIEGEL-Titel

 

Was das Rätsel seines Ruhms etwas erhellt: Er legt sich nicht fest; er versucht sich an allem und reizt es dann bis zur Vollendung aus. Womit er als Rollen-Modell für eine Gesellschaft dient, die von ihren Künstlern weder Heils-Versprechen noch Zukunfts-Visionen erwartet – aber unbeirrbaren Perfektionismus auf selbst gewähltem Kurs.

 

So triumphiert der Individualismus und rechtfertigt sich dadurch – was jeder anstrebt, der an seiner Patchwork-Biografie bastelt. Als Beuys starb, hob «DER SPIEGEL» sein Konterfei mit Hut auf die Titelseite – und erwies damit seiner Geltungssucht eine letzte Referenz. Wenn Richter einst das Zeitliche segnet, sollte das Magazin eher mit Farb-Schlieren aufmachen – um seine Hingabe an die Sache zu ehren.