
«Shame» soll von Sex-Sucht handeln. Vom Verlangen, es immer wieder zu tun. Von der Gier nach dem Kick, wenn die Erregung im Körper aufsteigt. Vom Zwang, diesen Reiz ständig spüren zu wollen: überall, mit wechselnden Partnern. Und vom Selbstekel, wenn die Erregung abklingt und sich innere Leere ausbreitet. Soweit die Eigenwerbung des Films.
Info
Shame
Regie: Steve McQueen, 100 min., Großbritannien 2011;
mit: Michael Fassbender, Carey Mulligan, Nicole Beharie
Live Sex wie Börsenkurse
Brandon (Michael Fassbender) kommt ins Büro: Designer-Schreibtische und gläserne Raumteiler. Er geht sofort aufs Klo, wischt sorgfältig die Toiletten-Brille ab – und holt sich einen runter. Abends kehrt er heim: Designer-Möbel und raumhohe Fenster. Er klappt seinen Laptop auf, klickt einen live sex channel an – und sieht so unbewegt zu, als studiere er Börsenkurse.
Offizieller Film-Trailer
Impotenz beim ersten Date
Dieser Mann ist leidenschaftlich wie ein Zombie. Prostituierte dirigiert er so sachlich, als wären sie Handwerker. Dennoch billigt ihm Regisseur Steve McQueen enorme Anziehungskraft zu: Während sein Boss David eine Power-Frau mit Gefasel vergrault, genügt ihm ein Kopfnicken, um sie an der nächsten Ecke im Stehen zu vögeln. So unwiderstehlich wären viele Männer gern.
Auftritt Sissy (Carey Mulligan): Brandons etwas haltlose Schwester quartiert sich bei ihm ein. Wenn sie in einer Bar den Gassenhauer «New York, New York» in Zeitlupe zersingt, muss ihr Bruder weinen. Sissy bleibt cool, flirtet mit David, landet mit ihm im Bett, wird sitzen gelassen, hat Katzenjammer – und macht munter weiter. Dagegen bringt Brandon beim Date mit Kollegin Marianne (Nicole Beharie) fast kein Wort heraus – und bekommt beim ersten Schäferstündchen keinen hoch.
Spezifisch angelsächsische Prüderie
Zu sehen sind kaum Sex und noch weniger Sucht, sondern meist neurotische Übersprungs-Handlungen. Scheinbar war Drehbuch-Autorin Abi Morgan unentschieden, ob sie Brandon als narzisstischen Don Juan anlegen soll, der Frauen vernascht wie andere Bonbons – oder als kontaktgestörten Klemmi, der seinen Trieb mit Surrogaten stillt. Das lässt die Hauptfigur so widersprüchlich wie unglaubwürdig erscheinen – und ihre Eskapaden so willkürlich wie nichtssagend.
Hintergrund
Weitere Rezensionen finden Sie in der Presseschau bei Film-Zeit.
Lesen Sie hier eine Besprechung des Dokumentarfilms "The Big Eden" über Rolf Eden, den letzten lebenden deutschen Playboy
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und hier einen Beitrag über die Doku "Whores' Glory - Ein Triptychon" von Michael Glawogger über Prostitution weltweit
und hier eine Kritik des Films "Shopping Girls - Galerianki" von Katarzyna Rosłaniec über Teenie-Prostitution in Polen.
Keine Spur von seelischen Abgründen
Der große Charakter-Darsteller Fassbender läuft mit versteinertem Pokerface herum, als sei er sediert. Carey Mulligan soll als Babyface-Schwester für emotionalen Kontrast sorgen; der bleibt bloße Behauptung. Wie der ganze Film: Von den seelischen Abgründen eines Süchtigen, seinen Passionen und Ängsten fehlt jede Spur.
Womit ein wichtiges Thema verschenkt wird. Die permanente Verfügbarkeit erotischer Stimuli im Cyberspace dürfte das reale Sexualleben merklich verändern. Was folgt daraus, wenn Kinder Hardcore-Pornos sehen, bevor sie geschlechtsreif sind? Wenn jeder auf Knopfdruck extreme Praktiken betrachten kann? Solche Fragen werden bislang kaum diskutiert; stattdessen füllen Anmach- und Stellungs-Tipps die Medien.
Puritaner-Debatte über Sexualisierung
Oder moralinsaure Warnungen wie in Ariadne von Schirachs Buch «Der Tanz um die Lust», diesem nachzugeben. Die Debatte über die zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit wirkt so schematisch wie im puritanischen Zeitalter, während der Konsum von Erotika alltäglich wird. «Ich möchte nicht über etwas schreiben, wovon ich keine Ahnung habe», begründet Regisseur McQueen, warum er das Drehbuch einer Frau überließ: Ihr ging es offenbar genauso.